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Jungen beim Fußballtraining.

© Promo/Bundesbeauftragter

Missbrauchs-Prävention an den Schulen: „Vor sexueller Gewalt schützen klare Regeln“

Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, sieht bei der Prävention große Defizite in den Schulen und fordert klare Regeln für den angemessenen Umgang mit Kindern in jeder Schule.

2010 sind die ersten Fälle von sexuellem Missbrauch am Berliner Canisius-Kolleg bekannt geworden. Viel wurde seitdem auch an den Schulen von Prävention gesprochen. Was hat sich tatsächlich getan?
Den meisten Schulleitungen ist klar, wie wichtig es ist, Kinder und Jugendliche in den Schulen vor sexueller Gewalt zu schützen. Es muss alles unternommen werden, dass Schulen keine Tatorte sind und Kompetenzorte werden, in denen die Schüler sensible Ansprechpartner finden. Da ist noch enorm viel zu tun.

Lehrer wurden fortgebildet, oder?

Punktuell ist einiges passiert, aber eine systematische Fortbildungsoffensive in allen Ländern gibt es nicht. Fortbildung ist aber nötig. Jeder Lehrer sollte ein Basiswissen haben, um Signale der Kinder deuten zu können. Er muss auch wissen, wie er reagieren soll, wenn er sexuelle Gewalt vermutet – unabhängig davon, ob er Deutsch, Sport oder Mathe unterrichtet.

Es reicht nicht, das Thema in der Sexualaufklärung zu behandeln?

Es bedarf der klaren Haltung jeder Schulleitung, dass sich die eigene Schule gegen sexuelle Gewalt an Kindern engagieren muss. Im zweiten Schritt sollte jede Schule analysieren, wo ihre Gefahrenquellen sind. Das können die Umkleidekabinen, Toiletten, der Duschbereich oder die Klassenfahrt sein. Solche Schwachstellen können aber auch ganz woanders liegen. Es ist auch eine Frage von Nähe und Distanz zwischen Lehrern und Schülern. Jede Schule muss ihre individuellen Schutzkonzepte entwickeln. Sexualpädagogik kann dies flankieren, sollte aber nicht zu einer Gefahrenabwehrpädagogik werden.

Ein Porträtbild des Missbrauchsbeauftragten des Bundes, Johannes-Wilhelm Rörig.
Johannes-Wilhelm Rörig, Betriebswirt und Jurist, ist seit 2011 Beauftragter der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Er versteht sich als Anwalt der Opfer.

© picture alliance / dpa

Vor einigen Wochen stellte sich heraus, dass ein Lehrer der Odenwaldschule Kinderpornos aus dem Internet heruntergeladen hat. Wie weit ist die Odenwaldschule bei der Analyse ihrer Schwachpunkte?

Ich habe den Eindruck, die bisherigen Präventionsaktivitäten reichen nicht aus.

Für Betroffene liegt die zentrale Schwachstelle in den Familienstrukturen in der Reformpädagogik. Muss sich die Odenwaldschule davon verabschieden?

Da muss enorm nachgesteuert werden, Reformpädagogik hin oder her. Für mich ist der entscheidende Schritt erst dann getan, wenn der Verein „Glasbrechen“, der die Opfer der Odenwaldschule vertritt, damit einverstanden ist. Betroffene sind die Experten, die genau wissen, wo die Risiken für Missbrauch lauern.

Was können die Kultusminister tun, um den Schutz vor sexueller Gewalt in den Schulen besser zu verankern?

Die Kultusministerkonferenz hat Leitlinien aufgestellt. Doch diese müssen auf jede der rund 30 000 Schulen heruntergebrochen und dort umgesetzt werden.

Was konkret muss getan werden?

Das Thema muss in den Lehrplänen verankert werden. Kinder und Jugendliche müssen lernen, dass es sich um Gewalt handelt, was ihnen da möglicherweise angetan wird. Sie müssen auch darüber Bescheid wissen, welche Gefahren im Internet lauern, etwa durch Sexting und Cybergrooming und welcher Schaden durch leichtfertiges Versenden von Fotos und anderem für sie entstehen kann. Beim Cybergrooming geben sich Erwachsene als Jugendliche aus und versuchen, mit Jugendlichen in sozialen Netzwerken in Kontakt zu kommen.

Viele Lehrer und Erzieher in den Kitas sind mittlerweile so verunsichert, dass sie sich nicht mal mehr trauen, ein Kind in den Arm zu nehmen, um es zu trösten.

Das ist natürlich eine falsche und nicht hilfreiche Überreaktion. Sie zeigt, wie groß die Hilflosigkeit und Ahnungslosigkeit ist. Klare Regeln schaffen Sicherheit und sind das beste Mittel gegen einen Generalverdacht. Wenn die Regel aufgestellt ist, dass in den Umkleideräumen nicht fotografiert werden darf, kann auf einen Verstoß auch angemessen reagiert werden. Wenn aber alle dort mit Handykameras herumlaufen dürfen, öffnet sich Tür und Tor für Nacktfotos oder bloßstellende Aufnahmen. Jede Schule sollte ihre eigenen Regeln erarbeiten, entsprechend den Gefahrenquellen, die es bei ihr gibt. So kann beispielsweise gelten, dass ein Sportlehrer, dem die Hand bei einer sportlichen Hilfestellung versehentlich auf den Po der Schülerin rutscht, nicht dazu schweigt, sondern sich entschuldigt und das Versehen einer für solche Fälle benannten Ansprechperson in der Schule meldet. So können gefährliche Grauzonen beseitigt werden. Ein anderes Beispiel: Es darf grundsätzlich kein Lehrer bei einer Klassenfahrt im Zelt mit Schülern übernachten. Das muss festlegt sein. Wenn er es trotzdem tut, kann der Schulleiter diesen Regelverstoß ahnden.

Sie regen an, dass sich die Wissenschaft an der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle beteiligt. Wie aufgeschlossen sind die Forscher?

Die Wissenschaft ist sehr daran interessiert, die gesellschaftlichen Strukturen aufzudecken, die zu Missbrauch geführt haben. Einzelne Institutionen haben ihre dunkle Vergangenheit untersucht. Erforderlich ist darüber hinaus eine unabhängige Aufarbeitung von Missbrauch in all seinen Facetten, Missbrauch in Einrichtungen ebenso wie in der Familie. Gemeinsam mit Experten und Betroffenen hatte ich 2013 vorgeschlagen, dafür eine unabhängige Kommission auf Bundesebene einzurichten. In Irland ist das geschehen, Australien ist gerade dabei. Doch hierzulande fehlt noch der politische und gesellschaftliche Konsens.

Was ist das Ziel?

Das enorme Ausmaß und die schwerwiegenden Folgen des Kindesmissbrauchs müssen endlich bei der breiten Öffentlichkeit ankommen. Erst dadurch kann das gesellschaftliche Bewusstsein geschärft und eine wirkungsvolle Ächtung des Missbrauchs erreicht werden.

Die Grünen arbeiten ihre Gründungsgeschichte in Hinblick auf Pädophilievorwürfe auf. Leistet die eingesetzte Kommission gute Arbeit?

Ich denke schon. Auch weil Betroffene gehört und Zeitzeugen befragt werden. Sehr positiv ist auch, dass sich nicht nur die Bundesebene damit beschäftigt, sondern auch die Landesebenen und Ortsverbände einbezogen sind. Auch dort wird in den Archiven und Parteibüros nach Beschlüssen und Protokollen gesucht.

Das Gespräch führte Claudia Keller.

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