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Gentechnisch veränderte Mäuse dienen am Berliner Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin beispielsweise als Forschungsmodell für die Alzheimer-Krankheit oder für die Entstehung von Tumoren.

© Mike Wolff

Unersetzbar oder unvertretbar?: Wo die Berliner Forschung nicht auf Tierversuche verzichtet

Forschende weichen auf Alternativen zu Tierversuchen aus, aber Genmaus und Laborratte sind in der medizinischen Forschung vorerst nicht ersetzbar.

Die Erfolgsmeldungen aus den Laboren der Impfstoffentwickler Biontech und Moderna gingen um die Welt. Eine wirksame Immunisierung gegen Covid-19 erscheint möglich, das Ende von Lockdown, Home-Office und Maskenpflicht in greifbarer Nähe.

Die verkündeten Erfolge stammen aus der abschließenden Phase der klinischen Erprobung: Tausende Menschen haben die experimentellen Vakzine erhalten und sie zeigten erwünschte Wirkung. Aber schon vor den ersten Versuchen mit nur wenigen menschlichen Beteiligten wurden sie auf ihre Sicherheit getestet: an Zellkulturen und an Tieren.

In Berlin hält die zuständige Behörde jedoch Genehmigungen zurück. Zwanzig Forschungsanträge werden derzeit nicht bearbeitet. Pharmaunternehmen und auch der Chef des Robert-Koch-Instituts Lothar Wieler warnen vor der Benachteiligung des Forschungsstandortes. Der Berliner Regierungschef Michael Müller (SPD), der auch Wissenschaftssenator ist, hat angekündigt, diesbezüglich die Arbeit das zuständigen Justizsenators Dirk Behrendt (Grüne) zu überprüfen. Müller verweist auf die Corona-Pandemie, in der entsprechende Forschung für die Impfstoffentwicklung gebraucht würde.

Maus, Ratte und Huhn

„Es ist ethisch undenkbar, Menschen experimentelle Impfstoffe zu verabreichen, ohne vorher im Tiermodell gezeigt zu haben, dass sie verträglich sind“, sagt Thomas Willnow vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) in Berlin. In solchen Verträglichkeitsstudien werde man nie auf Versuche etwa an Mäusen oder Ratten verzichten können, vermutet der Biomediziner.

Doch die Entwicklung gehe klar in eine Richtung: „In immer mehr Experimenten, die an Tieren durchgeführt werden, werden sie durch Alternativen wie Stammzellen ersetzt“, sagt Willnow.

Nach Angaben des Landesamts für Gesundheit und Soziales wurden im Jahr 2019 in Berlin Versuche an über 185.000 Tieren gemeldet. Das ist ungefähr ein Sechstel weniger als im Vorjahr. Das meist eingesetzte Versuchstier ist die Maus, sie stellt rund 85 Prozent aller Versuchstiere. Es folgen Ratte und Haushuhn. In insgesamt drei Prozent der Versuche wurden andere Tierarten wie Javaneraffen, Rinder, Goldhamster und Kaninchen eingesetzt, zudem auch nicht-Säugetiere wie Krallenfrösche und Zebrabärblinge.

Knapp die Hälfte der Versuche überstehen die Tiere unbeschadet, etwa wenn Futtersorten oder tierärztliche Medikamente an ihnen getestet werden. Mehr als ein Fünftel der Tierversuche geht mit einer „mittleren oder schweren Belastung“ der Versuchstiere einher. Beim übrigen Drittel erfolgen ein einmaliger Eingriff und die Tötung unter Vollnarkose, etwa um Gewebeproben zu entnehmen.

Alle geplanten Tierversuche müssen ans Landesamt gemeldet und von einer Kommission genehmigt werden. Sie prüft die wissenschaftliche Notwendigkeit der Vorhaben und den Bedarf an Versuchstieren. Derzeit verzögert sich die Bearbeitung von Anfragen und aufgrund von Neubesetzungen der künftig zwei Kommissionen wird befürchtet, dass die Forschung beeinträchtigt wird.

„Meist spricht man mit den Mitarbeitern die Versuche durch und findet einen Konsens, der dem wissenschaftlichen Anspruch und dem Tierschutz gerecht wird“, sagt Willnow. Aber solange man keine Genehmigung habe, gebe es keine Forschung.

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Herzinsuffizienz und Demenzen

Der Mediziner Michael Gotthardt vom MDC sieht sich von der gegenwärtigen Blockadesituation direkt betroffen. Er arbeitet mit seinem Team an einem Medikament gegen Herzmuskelschwäche. Dafür werden Tierversuche an Mäusen vorgenommen. Den Tieren wird ein Medikament gespritzt und dann ihre Herztätigkeit mit Ultraschall beobachtet.

Bislang hatte Gotthardt mit den Anträgen für Tierversuche keine Probleme, sie seien zeitnah beurteilt worden. „Die Situation ist nun natürlich schwierig, wenn eine Behörde die Beurteilung aussetzt“, sagt Gotthardt. Er müsse auf Nachfrage von Gutachtern zu noch nicht akzeptierten Publikationen weitere Tierversuche durchführen. „Dazu muss man Ergänzungen beantragen“, sagt der Leiter MDC-Arbeitsgruppe Neuromuskuläre und kardiovaskuläre Zellbiologie.

Das Abschließen der Publikation sei auch wichtig, um Geldgeber für mögliche Firmengründungen gewinnen zu können. In der Regel erhalte man für die Abgabe einer Publikation drei Monate Zeit. „Wenn nun die Anträge nicht bearbeitet werden, ist das ein Riesenproblem für uns“, erklärt Gotthardt.

Willnows Gruppe erforscht die genetischen Ursachen für Altersdemenzen wie die Alzheimer-Krankheit. „Wir möchten Risikofaktoren finden, die bestimmen, warum manche Menschen daran erkranken während andere gesund altern“, sagt Willnow. Sein Team hat eine genetische Variante entdeckt, die die Wahrscheinlichkeit etwa verzehnfacht, mit der die Träger an Alzheimer erkranken.

Bei einer weiteren Form der Demenz hat sein Team Ursachen gefunden und auch zur Entwicklung von Medikamenten beigetragen, die derzeit klinische geprüft werden. „Unsere Arbeit kommt in der Klinik und bei Patienten an“, sagt Willnow.

„Dazu braucht es Tierversuche“

Gotthardts Gruppe arbeitet an einem Medikament, das die Herzfunktion bei einer Insuffizienz verbessern soll, bei der das Herz nicht ausreichend mit Blut gefüllt wird. Ursachen können Veränderungen im Aufbau der Herzwand oder zu starkes Bindegewebe sein, insbesondere bei Diabetes-Patienten und Menschen mit Bluthochdruck. Hier wollen die Forscher durch eine Veränderung des körpereigenen Proteins Titin weiterhelfen.

Gemeinsam mit einer Firma in den USA entwickeln er und sein Team einen therapeutischen Ansatz. Dazu werden sowohl Mäuse als auch künstliches Herzgewebe mit einem Wirkstoff behandelt. „Das muss beides gemacht werden, um zu sehen, ob die Substanz im menschlichen Gewebe und auch in einem kompletten Organismus funktioniert.“ In isoliertem Herzgewebe seien Nebenwirkungen nicht feststellbar. „Dazu braucht es Tierversuche.“

Die Forschenden arbeiten mit Mäusen, die genetisch verändert wurden, sodass ihre Herzfunktion ähnlich eingeschränkt wird wie bei menschlichen Betroffenen. Den Tieren wird wöchentlich ein Medikament in den Bauchraum injiziert. „Im Prinzip nur ein kleiner Pieks.“ Am Ende der Behandlung werden ihre Körperfunktionen per Ultraschall analysiert. Das Medikament habe in vorangegangenen Versuchen bereits Wirkung gezeigt.

Die Gutachter der eingereichten Publikation zur Studie hätten nun aber auch verlangt, Herzrhythmusstörungen als Nebenwirkungen auszuschließen. Deshalb müssten nun EKGs behandelter Tiere gemacht werden. „Das muss beantragt werden – und das wird aktuell extrem verzögert.“

Die Versuchstiere müssen weder für das EKG noch für die Ultraschalluntersuchungen getötet werden. Sie erhalten eine kurze Narkose für die Tests. „Die Tiere haben keine Schmerzen und wachen in einer ruhigen Umgebung auf, das ist eine leichte Belastung“, sagt der Forscher. Nötig wäre das EKG bei vier Gruppen mit je fünf Tieren. Nach den Versuchen würden die Tiere weiter am MDC gehalten.

Durch die Verzögerung erwartet Gotthardt nun einen Wettbewerbsnachteil. „Die Konkurrenz in der Wissenschaft ist groß“, sagt er. „In letzter Konsequenz kann das bedeuten, dass man überholt wird“, sagt Willnow. Kooperationen mit Partnern außerhalb der Europäischen Union sind eine Ausweichmöglichkeit. „Aber es ist extrem schwierig für Langzeitversuche die Kooperationspartner bei der Stange zu halten“, sagt Gotthardt. Zudem seien die Genehmigungsverfahren zum Beispiel in Großbritannien und den USA ähnlich gestaltet, sagt Willnow, der früher dort forschte.

Tierfreie Forschung

Wie ist es um die Alternativen zu den Tierversuchen bestellt? „Derzeit revolutioniert die Stammzelltechnologie die biomedizinische Forschung“, sagt Willnow. Seine Gruppe verwendet Blutzellen von Alzheimer-Patienten und gewinnt daraus Nervenzellen, die sich sogar zu kleinen Organoiden aus einer Art Hirngewebe zusammenfügen lassen. An solchen humanen Modellen können Wirkstoffe getestet werden. „So haben wir Tierversuche ersetzt, die wir früher gemacht hätten“, sagt Willnow. Er verwendet Stammzellmodelle mittlerweile in etwa der Hälfte seiner Forschung und der Bedarf an Versuchstieren sei in den vergangen fünf Jahren um 30 bis 40 Prozent gesunken.

Gotthardt arbeitet am Berliner Einstein-Zentrum an einer Initiative zu alternativen Methoden. Er hält es für sehr wichtig, dass sie von Forschenden entwickelt werden, die selbst Tierversuche vornehmen. „Nur die können die Methoden direkt vergleichen.“ Teilweise sind die Tierversuche schlicht aussagekräftiger, etwa weil künstliches Herzgewebe nie so reife wie im Herz einer ausgewachsenen Maus. Auch viele Nebenwirkungen lassen sich nur in einem lebenden Organismus überprüfen.

Willnow untersucht auch Einflüsse der Ernährung auf das Altern des Gehirns. „Hintergrund ist, dass Diabetes und Übergewicht Risikofaktoren für Demenzen sind“, sagt der Biomediziner. Dazu bedarf es der Versuche an Tieren: Gruppen von zehn bis zwanzig Tieren werden über sechs bis zwölf Monate kontrolliert ernährt. Es werden regelmäßig Blutproben entnommen bis die Tiere am Ende dieser Zeit getötet werden, um ihr Hirngewebe histologisch zu untersuchen.

„Wir brauchen das komplexe Wechselspiel zwischen dem Stoffwechsel des Körpers und der Funktion des Gehirns“, so Willnow. Für die Wechselwirkungen zwischen mehreren Organen im lebenden Tier gibt es noch keinen Ersatz.

Anträge zu Versuchen mit mehr Tieren werden von der Landesamtskommission kritisch beurteilt. Die Rückfrage, ob aussagekräftigere Versuche mit einer geringeren Anzahl Tiere auskommen können, sei berechtigt, sagt Willnow. Aber für die wissenschaftliche Aussagekraft der Versuchsergebnisse muss die Anzahl ausreichend hoch sein. Sind es zu wenige Versuchstiere, kann das die Ergebnisse verfälschen und sie bestätigen sich auch nicht in der Behandlung von Menschen. „Es ist ein Spannungsfeld“ sagt Willnow.

Gotthardt sieht skeptisch, dass die Tierversuchskommission auf vier Positionen von Tierschutzorganisationen besetzt werden soll. Fachwissen sei zentral. „Unsere Arbeit muss primär wissenschaftlich beurteilt werden.“ Der Mediziner schlägt daher vor, eine solche Kommission auch mit Personen zu besetzen, die gleichzeitig Erfahrung mit Patienten, Tiermodellen und Alternativmethoden haben. „Wir machen die Tierversuche, weil sie dringend notwendig und in der Medikamentenentwicklung vom Gesetzgeber vorgeschrieben sind.“

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