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Thiagoda Costa Oliveira (re.)und Orlando Fontes, ein Forscher und Vertreter von der indigenen Gruppe der Baniwa, im September 2018 beim Workshop „Geteiltes Wissen“. 

© Ethnologisches Museum Berlin, Lisa Kröning

Kooperation für die Forschung: Umstrittenes Erbe, gemeinsame Verantwortung

Die Freie Universität Berlin und die Stiftung Preußischer Kulturbesitz schließen eine strategische Partnerschaft. Sie ist für den Forschungscampus Dahlem zentral: Es geht um die Frage, wie mit Sammlungen umgegangen wird und wem die Objekte gehören.

Collections are connections“, sagt Thiago da Costa Oliveira. „Sammlungen machen es möglich, die Beziehungen zwischen Regionen und Gesellschaften, zwischen der menschlichen und der nichtmenschlichen Welt zu überdenken: Sie öffnen den Blick auf Gegenwart und Zukunft.“ Thiago da Costa Oliveira ist Postdoktorand der Alexander von Humboldt-Stiftung am Ethnologischen Museum der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) und am Botanischen Garten der Freien Universität. Er untersucht Kulturobjekte, die europäische Forscher im 19. Jahrhundert im brasilianischen Amazonasgebiet zusammengetragen haben und die heute in Berlin an verschiedenen Orten aufbewahrt werden: So lagert ein geflochtener Korb etwa im Ethnologischen Museum, während man im Botanischen Museum des Botanischen Gartens der Freien Universität etwas über die Jupati-Palme erfährt, eines der Materialien, aus denen der Korb hergestellt wurde; im Ibero-Amerikanischen Institut (SPK) wiederum finden sich Landkarten, Fotos und Bücher zur Region. 

1905 hatte der Anthropologe Theodor Koch-Grünberg den Korb aus Kolumbien ins Ethnologische Museum gebracht. Geflochten ist er aus Fasern der Jupati-Palme.

© Inga Kjer/photothek/SPK

Thiago da Costa Oliveiras wissenschaftliche Arbeit ähnelt selbst einer Flechtarbeit: Er verbindet das auf mehrere Einrichtungen verteilte Wissen und erweitert es um die Perspektive der Herkunftsgesellschaft, der indigenen Amazonasbewohner. „Sammlungen sind nicht das Ende, sondern der Anfang von Beziehungen“, sagt der Ethnologe.

Menschen aus fremden Kulturen wurden exotisiert

Lara Kemnitz hat für ihre Masterarbeit an der Freien Universität zwei Fotografien aus dem Nachlass des deutschen Ethnologen und Mediziners Robert Lehmann-Nitsche (1872 – 1938) untersucht. Sie erforscht, wie Angehörige indigener Gemeinschaften um 1900 von Europäern visuell dargestellt wurden. Die Bilder, die einen kleinwüchsigen Mann und ein 13-jähriges Mädchen zeigen – beide sind nackt –, liegen im Ibero-Amerikanischen Institut in Berlin. „Es war zu der Zeit verbreitet, Menschen aus ,fremden‘ Kulturen auf Abbildungen zu exotisieren, auch zu erotisieren“, erläutert Lara Kemnitz. Kryygi, das 13-jährige Mädchen, starb an Tuberkulose, kurz nachdem Lehmann-Nitsche sie fotografiert hatte. Ihr Skelett wurde im Museo de la Plata in La Plata, Argentinien, aufbewahrt, 1897 hatte der Deutsche die Leitung der dortigen Anthropologischen Abteilung übernommen; ihren Schädel schickte er für wissenschaftliche Untersuchungen an die Berliner Charité. Zwischen 2010 und 2012 wurden die menschlichen Überreste der indigenen Gemeinschaft der Aché zurückgegeben, aus der das Mädchen stammte.

Die Abbildung der Jupati-Palme stammt aus Carl Friedrich Philipp von Martius’ Band „Historia Naturalis Palmarum“(1823–1853); das Buch liegt im Botanischen Museum Berlin

© Bibliothek Botanischer Garten und Botanisches Museum

Zwei Beispiele, die zeigen, wie es im ethnologischen Arbeiten heute darum geht, das seit dem 19. Jahrhundert entkoppelte Spezialwissen auch in seiner Materialität wieder zusammenzubringen. Mit dem Ziel: historisch gewachsene Grenzen zwischen Institutionen – Museen, Archiven, Bibliotheken und Universitäten – sowie Objekttypen zu überwinden, aber auch die Trennung zwischen Europa und Nicht-Europa aufzubrechen und die Verflechtungen zwischen den Weltregionen zu betonen.

Multimediale Sammlungen stehen im Mittelpunkt

Multimediale Sammlungen spielen dabei eine wichtige Rolle. Sie stehen im Mittelpunkt der strategischen Partnerschaft zwischen Freier Universität Berlin und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz beim Forschungscampus Dahlem (FCD). Das Projekt steht unter den Leitbegriffen „Kulturen Forschen Dinge Wissen“ und wird von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Ethnologischen Museums, des Museums für Asiatische Kunst, des Museums Europäischer Kulturen, des Instituts für Museumsforschung, des Rathgen-Forschungslabors, der Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin (SMB) und des Ibero-Amerikanischen Instituts der SPK geleitet. Sie bilden den Lenkungsausschuss, in dem die Inhalte und Ideen für einen zukünftigen Forschungscampus am Standort Dahlem entwickelt werden. Die bereits bestehende Zusammenarbeit dieser SPK-Einrichtungen mit dem Institut für Sozial- und Kulturanthropologie, dem Lateinamerika-Institut, den globalen Kunstgeschichten und anderen Instituten der Freien Universität in unmittelbarer Nachbarschaft soll dabei im Rahmen einer strategischen Partnerschaft nachhaltig ausgebaut werden.

Strategische Partner: (vordere Reihe, vonl inks) Alexis von Poser, Patricia Rahemipour und Gero Dimter von der SPK,(hinten)Marianne Braig, Hansjörg Dilger und Günter M .Ziegler, Freie Universität Berlin

© Bernd Wannenmacher

Der Fokus des Forschungscampus Dahlem liegt auf der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den SPK-Sammlungen, von denen ein Teil im Depot des insgesamt 45.000 Quadratmeter umfassenden Museumskomplexes an der Dahlemer Takustraße lagert. Denn nur zwischen drei und sieben Prozent der Sammlungen des Ethnologischen Museums und 20 bis 25 Prozent des Museums für Asiatische Kunst ziehen ins Humboldt Forum nach Berlin-Mitte. Nahezu die gesamte Forschungsinfrastruktur der beiden Museen, Bibliotheken, Archive, Werkstätten, Büros und Teile anderer Institutionen bleiben auf Dauer in Dahlem. Weiterhin am Standort aktiv ist auch das ebenfalls am Forschungscampus beteiligte Museum Europäischer Kulturen.

Ein Experimentierfeld für neue Themen

„Der Forschungscampus Dahlem hat enorme Bedeutung für die Stiftung Preußischer Kulturbesitz“, sagt SPK-Präsident Professor Hermann Parzinger. „Wir werden dort eine ganz neuartige Form der einrichtungsübergreifenden Zusammenarbeit innerhalb der SPK entwickeln, die unterschiedliche Kompetenzen bündelt und als eine Art Labor oder Experimentierfeld neue thematische Korridore öffnet. Dies kann aber nur dann eine neue Qualität erreichen, wenn die sammlungsbezogene Grundlagenforschung einer Gedächtnisinstitution wie der SPK mit universitärer Forschung und Lehre verknüpft wird.“ Gerade die Freie Universität verfüge dabei über eine hohe Kompetenz in jenen Disziplinen, die für die Arbeit an und mit den Sammlungen von zentraler Bedeutung ist: „Das macht sie zu einer bevorzugten strategischen Partnerin.“

Professor Günter M. Ziegler sieht im Forschungscampus Dahlem eine „Energiequelle für die Universität“: „Ich erwarte eine sehr lebendige und dynamische Kombination aus Sammlungen, Forschungslabors, Lehr- und Lernorten, an denen kulturelles Erbe untersucht, diskutiert, wissenschaftlich erfasst und analysiert wird“, sagt der Präsident der Freien Universität. Er ergänzt: „Auch sehe ich eine weitere vielfältige Vernetzung der SPK-Einrichtungen mit dem breiten Fächerspektrum an der Freien Universität; dies gilt von der Ethnologie bis zur Kulturgeschichte, von der Archäologie und der Geschichte bis zu den Sozial- und Politikwissenschaften, mit Expertise auch aus den Natur- und Materialwissenschaften.“ Aus der strategischen Partnerschaft entstehe ein „wichtiger, aufregender und inspirierender Impulsgeber für die Universität und den Forschungscampus Dahlem“.

Es gibt schon viele Formen der Zusammenarbeit

Die Verbindungen zwischen Stiftung Preußischer Kulturbesitz und Freier Universität sind seit jeher eng: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der SPK lehren an der Universität und betreuen Abschlussarbeiten. Am Weiterbildungszentrum der Freien Universität werden – auch von Dozentinnen und Dozenten der SPK – Qualifizierungskurse für Beschäftigte in Museen sowie für Kustoden und Restauratoren angeboten. Auf Forschungsebene kooperieren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beider Einrichtungen etwa im Rahmen des an der Freien Universität koordinierten und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierten „Maria Sibylla Merian Centre Conviviality-Inequality in Latin America“. Das internationale Forschungskolleg, an dem auch das Ibero-Amerikanische Institut beteiligt ist, nimmt vergangene und gegenwärtige Formen des sozialen, politischen und kulturellen Zusammenlebens in Lateinamerika und der Karibik in den Blick.

Paola Ivanov ist Kuratorin am Ethnologischen Museum und Privatdozentin an der Freien Universität. Sie untersucht im Rahmen des an der Freien Universität koordinierten DFG-Sonderforschungsbereichs „Affective Societies. Dynamiken des Zusammenlebens in bewegten Welten“ – eine weitere Kooperation, an der neben den Staatlichen Museen zu Berlin auch die Charité und weitere Hochschulen beteiligt sind – Affekte und Emotionen im Zusammenhang mit Sammlungen.

Wem gehören die Objekte?

Dass Sammlungsstücke mit Emotionen behaftet sind und Gefühle auslösen, habe häufig mit Fragen zu Herkunft und Eigentum zu tun, erläutert Paola Ivanov. Wem gehören die Objekte? Den Nachfahren derer, die sie zusammengetragen haben, die sie konservieren und ausstellen? Oder den Gesellschaften, denen sie vielfach durch europäische Forscher entzogen wurden? Fragen, die nicht zuletzt seit der Entstehung des Humboldt Forums großen Raum einnehmen. „Über die Sammlungen“, sagt die Ethnologin, „werden in Deutschland gesellschaftliche Debatten ausgetragen.“ Vor allem, weil es in der Provenienzforschung immer auch um die Selbstverortung eines Landes in der Welt geht.

An der Freien Universität gibt Paola Ivanov das Seminar „Decolonizing the museum?“; sie beobachtet, dass Studierende an Sammlungsgeschichte sehr interessiert sind. Die Hinwendung zum einzelnen Objekt als Ausgangspunkt der Forschung – Ausdruck des sogenannten Material Turn in den Sozial- und Geisteswissenschaften – stiftet eine Verbindung auch zu den Herkunftsgesellschaften. „Die Ethnologie spielt eine wichtige Rolle in der Vermittlung der transregionalen Wissens- und Beziehungsverflechtungen, die durch die Sammlungen entstanden sind. Die Auseinandersetzung mit den Sammlungen materieller und immaterieller Kulturgüter, die Analyse der damit verbundenen Asymmetrien und die Einbeziehung postkolonialer Ansätze sind in diesem Zusammenhang zentrale Forschungsfelder für das Fach und die Regionalforschung“, sagt auch Professorin Stephanie Schütze, Vorsitzende des Lateinamerika-Instituts der Freien Universität Berlin und assoziiertes Mitglied des Lenkungsausschusses Forschungscampus Dahlem für die Freie Universität.

Sammlungen sind zentral für den Wissenschaftsnachwuchs

„Sammlungsinstitutionen, Sammlungen und Objekte sind zentral für Produktion, Austausch und Transfer von Wissen von Studierenden sowie von Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern in Sozial- und Kulturanthropologie, Lateinamerikaforschung und außereuropäischer Kunstgeschichte“, sagt Professorin Barbara Göbel, Direktorin des Ibero- Amerikanischen Instituts. Mit Professor Hansjörg Dilger, dem Geschäftsführenden Direktor des Instituts für Sozial- und Kulturanthropologie der Freien Universität und designierten Sprecher, ist sie Co-Sprecherin eines für den Forschungscampus Dahlem geplanten Graduiertenkollegs. „Die Arbeit mit Sammlungen und Objekten schärft den Blick auf die Verknüpfung von Theorie und Praxis“, erläutert Barbara Göbel. „Wie werden Objekte klassifiziert? Wie ist der Zugang zu Sammlungen organisiert? Wie managt man sie, wie vermittelt man sie einem breiteren Publikum? Was bedeutet die digitale Transformation für Museen, Bibliotheken und Archive?“ Expertise auf diesem Aufgabenfeld qualifiziere nicht zuletzt für den Arbeitsmarkt, auch für wissenschaftsbasierte Tätigkeitsfelder außerhalb der Universität. „Für die SPK ist die Zusammenarbeit mit der Freien Universität Berlin wichtig, wir freuen uns, wenn wir auch in Zukunft gut ausgebildete universitäre Absolventinnen und Absolventen begeistern können, für unsere Einrichtungen tätig zu sein.“

Forschungscampus und Humboldt Forum funktionieren nur zusammen

Der Forschungscampus Dahlem sei komplementär zum Humboldt Forum zu verstehen, sagt Hermann Parzinger: „Beide Orte funktionieren nur im Zusammenspiel: In Dahlem wird zusammen mit Vertreterinnen und Vertretern der Herkunftsländer und Ursprungsgesellschaften geforscht, denn dort befinden sich neben den Sammlungen auch die zugehörigen Archive, Bibliotheken und Labore. In Dahlem werden viele Inhalte entwickelt, die im Humboldt Forum der Öffentlichkeit präsentiert werden können.“

Die räumliche Distanz zum Humboldt Forum schärfe das Profil des Forschungscampus, sagt Hansjörg Dilger, ebenfalls assoziiertes Mitglied im Lenkungsausschuss: „Im Gegensatz zum Humboldt Forum ist der Forschungscampus kein nationales Kulturprojekt mit stark repräsentativer Funktion, sondern vor allem auf die inhaltliche Arbeit an den Sammlungen konzentriert. Forschungsergebnisse, Lehrprojekte oder experimentelle Ausstellungen sollen einerseits wichtige Anregungen für die Arbeit des Humboldt Forums geben, dessen Arbeit aber auch kritisch reflektieren.“ Hinzu komme, dass die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Forschungscampus, die gezielt auch aus den Herkunftsländern der Sammlungen kommen sollen, den Blick explizit mit auf den europäischen Kontext richteten – anders als im Humboldt Forum: „Am Forschungscampus Dahlem ist auch das Museum Europäischer Kulturen mit seinen Sammlungen beteiligt. An ihnen lässt sich zeigen, wie die Kategorisierung der außereuropäischen ‚Anderen‘ in Museen unmittelbar mit den in Sammlungen und Objekten konstruierten Selbstbildern europäischer Gesellschaften verflochten ist“, sagt Hansjörg Dilger.

Im Rahmen des Forschungscampus sollen nach und nach alle Sammlungen digital verfügbar gemacht werden, die Objekte ebenso wie die Archive für Fotos, Tondokumente und Akten, sagt Alexis von Poser, stellvertretender Direktor des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst sowie einer der Sprecher des Lenkungsausschusses des Forschungscampus Dahlem. Schließlich gehe es nicht nur um akademische Forschung, sondern auch darum, Expertinnen und Experten aus den Herkunftsregionen der Sammlungen einzubeziehen und die Berliner Bevölkerung teilhaben zu lassen.

Ausgehen wolle man beim Forschungscampus zunächst von den Inhalten. Mittelfristig soll das Projekt aber auch architektonisch in Dahlem verankert werden. „Es gibt vielfältige Sanierungsbedarfe an dem denkmalgeschützten ehemaligen Museumskomplex, gleichzeitig gibt es inhaltliche Anforderungen, die baulich umgesetzt werden müssen“, sagt Patricia Rahemipour, Direktorin des Instituts für Museumsforschung und Sprecherin des Lenkungsausschusses. „Wir wollen auch physisch einen Ort schaffen, der die Entstehung von Wissen sichtbar macht und Wissen frei von jeder hierarchischen Ausgrenzung integriert.“

Bis es einen solchen Ort gibt, stehen die Sammlungsobjekte im Mittelpunkt: ein geflochtener Korb zum Beispiel, die Jupati-Palme oder eine Fotografie.

Christine Boldt

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