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Menschen gehen in London die Straße entlang - in Großbritannien haben sich bislang mehr als 425.000 Menschen mit dem Coronavirus infiziert.

© dpa/Alberto Pezzali

Um Impfstoffentwicklung zu beschleunigen: London will Freiwillige mit Coronavirus infizieren

Als erstes Land der Welt will Großbritannien Menschen gezielt mit Corona infizieren. Das soll die Forschung vorantreiben. Doch das Vorhaben ist umstritten.

Von Gloria Geyer

Großbritannien wagt einem Bericht zufolge als erstes Land der Welt einen umstrittenen Schritt in der Impfstoffentwicklung: Gesunde Menschen sollen absichtlich mit dem Coronavirus infiziert werden, um mögliche Impfstoffe zu testen. Die "Financial Times" hatte zuerst unter Berufung auf Projektbeteiligte über das Vorhaben berichtet.

Die ersten sogenannten „Human-Challenge“-Studien sollen demnach ab Januar durchgeführt werden. Dabei sollen Freiwilligen potentielle Vakzine verabreicht werden. Einen Monat später soll ihnen dann in einer kontrollierten Quarantäne das Coronavirus injiziert werden.

Die untersuchten Impfstoffe sollen sich dem Bericht zufolge noch in einer frühen Entwicklungsphase befinden. Durch die Studien soll auch ermittelt werden, welche potentiellen Impfstoffe sich für weitere Untersuchungen eignen. Während der Studien sollen die Probanden rund um die Uhr in einer klinischen Forschungseinrichtung in London überwacht werden.

Wie der britische Sender BBC berichtet, seien noch keine Verträge unterzeichnet worden. Ein Sprecher der britischen Regierung bestätigte der Deutschen Presse-Agentur in London, dass man mit Partnern zusammenarbeite, um mithilfe von „Human Challenge“-Tests die Impfstoffentwicklung zu beschleunigen.

Das von dem Londoner Imperial College geleitete Projekt soll in der kommenden Woche vorgestellt werden; dann sollen auch weitere Details bekanntgegeben werden.

Vorhaben soll Impfstoffentwicklung beschleunigen

Das übliche Verfahren sieht vor, dass zehntausende Menschen geimpft werden und verglichen wird, ob sich weniger Menschen auf natürlichen Weg infizieren als eine nicht geimpfte Kontrollgruppe. „Human Challenge“-Tests haben hingegen den Vorteil, dass die Wirksamkeit eines möglichen Impfstoffes unmittelbar überprüft werden kann. Die Suche nach einem Impfstoff soll dadurch schneller vonstatten gehen.

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Doch derartige Tests sind umstritten. Einem möglichen großen Nutzen und eine schnelle Resonanz in der Impfstoffüberprüfung stehen ethische Bedenken gegenüber. Denn eine Infektion mit Sars-CoV-2 könnte enorme gesundheitliche Risiken mit sich führen - auch, weil der Erreger in vielerlei Hinsicht noch nicht umfassend erforscht wurde. Für die Tests kommen deshalb vor allem jüngere Menschen ohne Vorerkrankungen in Frage, die ein geringes Risiko haben, schwer an Covid-19 zu erkranken.

Allerdings kann auch für diese Probanden Risiken nicht vollständig ausgeschlossen werden. Denn der sich noch in einer frühen Entwicklungsphase befindende Impfstoff könnte zu Nebenwirkungen führen. Und, falls der Impfstoff nicht die gewünschte Wirkung erzielt, ist auch ein schwerer Krankheitsverlauf denkbar.

WHO: „Human Challenge“-Test können ethisch akzeptabel sein

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat Empfehlungen herausgegeben, unter welchen Umständen „Human Challenge“-Tests vertretbar sind. Demnach könne die „absichtliche Infektion von Forschungsteilnehmern“ unter bestimmten Bedingungen „ethisch akzeptabel“ sein.

Dafür hat die WHO eine Liste von Ethik-Kriterien erstellt. So sei eine Durchführung etwa denkbar, insofern die Probanden freiwillig an den Tests teilnehmen und eine systematische Bewertung der potenziellen Vorteile und Risiken stattfinde. „Human Challenge“-Tests seien „eine der effizientesten und wissenschaftlich leistungsfähigsten Mittel zur Prüfung von Impfstoffen“, heißt es in dem WHO-Bericht weiter.

Weltweit wird mit Hochdruck an Corona-Impfstoffen geforscht.
Weltweit wird mit Hochdruck an Corona-Impfstoffen geforscht.

© dpa/Patrick Seeger

Due US-amerikanische Organisation „1DaySooner“ hatte sich für Challenge-Studien starkgemacht. Bislang haben sich über deren Plattform bereits rund 2000 Freiwillige gemeldet, die sich für das Projekt zur Verfügung stellen wollen. Eine derart hohe Teilnehmerzahl ist allerdings wahrscheinlich gar nicht notwendig.

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Wie BBC berichtet befindet sich unter den möglichen Freiwilligen auch der 18 Jahre alte Student Alastair Fraser-Urquhart. „Ich denke, der Challenge-Prozess hat das Potenzial, Tausende von Leben zu retten und die Welt wirklich früher aus der Pandemie herauszuführen“, zitiert der britische Sender den Studenten in einem Beitrag von BBC Radio 4 Today. Die Studie habe für ihn sofort „einen Sinn“ ergeben.

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Auch Epidemiologe Prof. Peter Horby von der Universität Oxford äußerte sich in der Sendung optimistisch - er halte die Studie für eine gute Idee, die Potential habe, die Forschung voranzutreiben. „Wir wissen jetzt, dass das Risiko bei einem gesunden jungen Erwachsenen ohne Grunderkrankungen extrem niedrig ist“, zitiert BBC den Wissenschaftler. Dies würden die Forschungsdaten zeigen. Weiter gebe es mittlerweile Behandlungen, die im Falle einer Erkrankung „nachweislich einen Nutzen“ hätten.

Medizinische Ethik-Kommission: Zumutung für Ärzte

Joerg Hasford, der in Deutschland den Arbeitskreis Medizinischer Ethik-Kommissionen leitet, steht dem Vorhaben kritisch gegenüber: „Je gefährlicher eine Krankheit ist, desto mehr spricht dagegen, solche Tests durchzuführen.“ Covid-19 sei erwiesenermaßen tödlich, mitunter auch für junge Menschen. Ein zuverlässiges Gegenmittel gebe es bislang nicht. „Ich finde, das ist auch eine Zumutung für die Ärzte. Stellen Sie sich vor, Sie sind Arzt und infizieren jemanden, und der stirbt.“

Doch nicht nur ethische Bedenken werfen Fragen auf, auch die wissenschaftliche Aussagekraft des Vorhabens ist umstritten. Denn Impfstoffe könnten auf diesem Wege nicht an älteren oder chronisch kranken Menschen getestet werden - allerdings sei diese Gruppe besonders gefährdet, kritisiert der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa). „Human Challenge“-Tests zum Coronavirus seien dem Verband zufolge „inakzeptabel“.

„Es ist eben nicht so, dass man Ergebnisse von jungen Frauen so leicht auf alte Männer übertragen kann. Das körpereignes Abwehrsystem wird mit dem Alter in der Regel nicht besser“, sagt auch Hasford.

„Human Challenge“-Tests wurden bereits bei der Entwicklung von Grippe- oder Malaria-Impfstoffen durchgeführt. In Deutschland gilt eine Durchführung im Fall von Sars-CoV-2 eher als unwahrscheinlich. Sowohl das Paul-Ehrlich-Institut als auch eine Ethikkommission müssten einem entsprechenden Vorhaben zustimmen. Nach Angaben der vfa hat bislang auch kein Pharmaunternehmen derartige Verfahren in Deutschland beantragt.

Weltweit arbeiten Unternehmen und Forschungseinrichtungen an potentiellen Corona-Impfstoffen. Die WHO zählt derzeit mehr als 180 Impfstoffprojekte. Etliche potenzielle Vakzine werden derzeit an Menschen getestet. (mit dpa)

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