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Forschungsschwerpunkt Literatur des Nahen Ostens: Tradition auf Wanderschaft

Die nahöstlichen Literaturen haben sich zwischen den Kulturen eingerichtet. Von Andreas Pflitsch

In einer Vorbemerkung zu dem Bericht über seinen Studienaufenthalt, der ihn 1826 für fünf Jahre nach Paris geführt hatte, warnte der Ägypter Rifaa al-Tahtawi, „nun möge sich der Leser hüten, das, was ich zu berichten habe, als unvereinbar mit Brauch und Sitte zu empfinden.“ Seine Beschreibung der französischen Hauptstadt hatte er in der Hoffnung verfasst, „dass sie die muslimischen Lande anregen möge, nach den fremden Wissenschaften und Künsten und Fertigkeiten zu streben. Denn dass diese im Lande der Franken vollkommen und perfektioniert sind, ist eine feststehende und weitbekannte Tatsache.“

Mit Beginn des 19. Jahrhunderts war im Nahen Osten die intellektuelle Herausforderung des Westens überdeutlich geworden und die Auseinandersetzung mit seiner Kultur zieht sich als eine Geschichte von Anziehung und Abstoßung bis in die Gegenwart. Neugierige Offenheit dem Fremden gegenüber stand von Anfang an neben den apologetischen Tönen derjenigen, die das vermeintlich Eigene abschotten und vor allem Neuen schützen zu müssen meinten. Seit zwei Jahrhunderten also arbeiten sich arabische, persische und türkische Intellektuelle intensiv am Westen ab und die in diesem Ringen entstandene Tradition ist längst ein ebenso wichtiger Bestandteil nahöstlicher Identitäten, wie der von den Konservativen hochgehaltene Kanon der klassischen islamischen Geschichte.

Darum ist das angestrengte Bemühen um Abgrenzung für den libanesischen Dichter Abbas Beydoun nichts weiter als eine Spiegelfechterei. Man sei schließlich längst verwestlicht, sagt er, „der Okzident ist doch, noch im Abscheu, den wir vor ihm haben können, unsere einzige reale Referenz!“ Auch der algerische Soziologe Mohamed Arkoun hat darauf hingewiesen, dass der Westen heute „das definitive Referenzsystem“ darstelle, hinter das man nicht zurückkomme. „Nehmen Sie doch nur ein beliebiges Buch zur Hand“, schreibt er, „das sich mit einem wesentlichen Themenkomplex des Wissens oder der Erkenntnis befasst, und Sie werden feststellen, dass es voll und ganz, ohne die leisesten erkenntnistheoretischen Vorbehalte, im Geist eines Wissens verfasst wurde, das in Europa, im Westen ausgearbeitet, entwickelt, revidiert, korrigiert und erweitert wurde und doch beansprucht, für alle Menschen, inklusive derer außerhalb Europas, gültig zu sein.“ Es gibt offensichtlich kein Entkommen, da noch die Kritik am Eurozentrismus dem europäischen Denken entstammt und nicht ohne Stolz auf diese Genealogie verweist.

Der Allgegenwart des Westens zum Trotz, machten und machen sich arabische, persische und türkische Autoren auf die Suche nach der eigenen kulturellen Identität und ihren Traditionen. Das richtige Mischungsverhältnis aus Eigenem und Fremden, die Frage, wie man die eigenen Traditionen bewahren, zugleich aber auch Anschluss an die Moderne finden könne, sind bis heute im Nahen Osten kontrovers diskutierte Fragen. Während die Einen für eine komplette Aufgabe der Traditionen einer als rückständig eingestuften Kultur und somit eine radikale Anlehnung an den Westen und seine Kultur plädieren, erinnern Andere an die Errungenschaften der eigenen Kulturtradition und warnen vor einer leichtfertigen Aufgabe ihrer Werte.

Die dezidiert defensive Haltung gegenüber dem drückend überlegenen – oder zumindest so wahrgenommenen – Westen, wie sie sich besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatte, wich erst mit Ende des 20. Jahrhunderts einer selbstbewussteren Einstellung. Lange hatte sich ein Denkmuster halten können, dem zufolge der Nahe Osten in einer umfassenden Krise stecke, die Region im wirtschaftlichen Niedergang begriffen sei, politisch am Boden liege und kulturell bestenfalls letzte Zuckungen dekadenter Epigonalität erlebe. Der Westen war endgültig zum kaum mehr hinterfragten Maßstab geworden. Dies galt auch für die literaturkritischen Diskussionen. Diejenigen nahöstlichen Autoren, die um die Mitte des 20. Jahrhunderts schrieben und die man als Vertreter einer 'klassischen Moderne' bezeichnen könnte, haben sich weitgehend an den Formen und Gattungen der europäischen Literatur, allen voran dem realistischen Roman, orientiert. Erst in jüngster Zeit sind verschiedene Versuche zu beobachten, aus dieser strengen Dichotomie von Tradition und Moderne auszubrechen und die in der Moderne fortwirkenden Traditionen ebenso zu erkennen, wie die den Traditionen innewohnenden Anknüpfungspunkte der Moderne.

Was in früheren Jahrzehnten Anlass für kulturelle Minderwertigkeitskomplexe war, wird in der die Hybridität feiernden Postmoderne in einen Vorteil umgedeutet. Dass man in beiden Geisteswelten zuhause ist, wird nicht länger als Zerrissenheit oder Ausdruck kultureller Schizophrenie erlebt, sondern im Zeichen postkolonialer Theorie als Gewinn verbucht, ja die Beweislast wird umgekehrt und die Europäer stehen plötzlich als Vertreter einer vergleichsweise eindimensional erscheinenden Monokultur da. Auf schwedisch schreibende Tunesier wie der 1978 in Stockholm geborene Jonas Hassen Khemiri, auf niederländisch schreibende Iraner wie der seit 1988 in Holland lebende Kader Abdolah oder frankophone Autoren wie der Libanese Amin Maalouf durchkreuzen erfolgreich die weiterhin vorherrschende Vorstellung von Nationalliteraturen und kultureller Zugehörigkeit. Autoren wie Emine Sevgi Özdamar oder Feridun Zaimoglu sind längst Teil der deutschen Literatur, der sie einen ganz eigenen Ton hinzufügen. Der in Bulgarien geborene Ilija Trojanow, der mit „Döner in Walhalla“ eine Anthologie mit Texten „aus der anderen deutschen Literatur“ herausgegeben hat, erinnert daran, was gerade die deutsche Literatur Autoren wie Franz Kafka, Elias Canetti oder Paul Celan verdankt, die „gemäß üblicher Definition alles andere als deutsch“ gewesen seien und erhofft sich von heutigen, zwischen den Kulturen schreibenden Autoren wie Salman Rushdie, Arundhati Roy oder Michael Ondaatje, dass sie die etablierten westlichen Literaturen „aus kleinbürgerlicher Langeweile und verknöcherter Nouveau-Roman-Ideologie“ rettet.

Die 1971 in Straßburg geborene türkische Autorin Elif Shafak, der als Tochter einer alleinerziehenden Diplomatin die kulturelle Mobilität in die Wiege gelegt wurde, rekurriert in ihren zunächst auf Türkisch und zuletzt auf Englisch geschriebenen Romanen auf die religiösen Traditionen des Nahen Osten. Die blinde Nachahmung des Westens hat ihr zufolge zu einer ungesunden Homogenisierung und Selbstbeschneidung der osmanisch-türkischen Kultur geführt. In der islamischen Mystik entdeckt Shafak dagegen Elemente, die für eine türkische Moderne fruchtbar gemacht werden könnten. Istanbul als kosmopolitische Metropole mit ihrem historischen Bevölkerungsgemisch aus Türken, Griechen, Juden und Armeniern wird ihr zum Gegenmodell des westlichen Konzepten folgenden türkischen Nationalismus der Kemalisten.

Es wäre jedoch falsch, das Phänomen allein den jungen Vertretern einer nahöstlichen Postmoderne zuzusprechen. Dem in Paris lebenden syrischen Dichter Adonis ist es seit seinen Anfängen in den fünfziger Jahren um eine autochthone arabische Moderne zu tun, da er die arabisch-islamische Kultur insgesamt als fortwährende kreative Auseinandersetzung zwischen zu Traditionen geronnenen und diese Traditionen durchkreuzenden und zerstörenden Kräften begreift. Auch ihm sind dabei der breite Strom der islamischen Mystik mit ihrem stark ausgeprägten antinomistischem Impuls und freigeistige arabische Dichter wie Abu Nuwas aus dem 9. Jahrhundert, Leitbilder und Kronzeugen seines Projekts. Einen Gegensatz zwischen orientalischer und abendländischer Kultur im Sinne einer strikten Grenzziehung lehnt er ab. Stattdessen geht er von einer osmotischen, fließenden Beziehung zwischen den Kulturen aus, die sich jeder Festschreibung widersetzen.

Einen solchen offenen Kulturbegriff findet man nicht nur bei Exilschriftstellern. So hat auch der ägyptische Literaturnobelpreisträger Nagib Machfus, der nie im Ausland lebte und nur selten und ungern reiste, seit den siebziger Jahren mit neuen Formen experimentiert und den klassischen Realismus seiner früheren Romane aufgegeben. Spätwerke wie „Echo meines Lebens“ oder das in diesem Herbst auf deutsch erschienene „Buch der Träume“ stellen den wohl am weitesten vorgeschobenen Brückenkopf im Bemühen des Autors dar, eine zeitgenössische arabische Prosa zu entwickeln, die modernes Erzählen mit Formen der arabischen Tradition verbindet. Machfus ging es in seiner Anlehnung an die sufische Tradition nicht um oberflächliche Effekte, wie sie das oft parodistisch unernste Zitierspiel der Postmoderne zelebriert, sondern um eine zeitgemäße Verbindung literarisch-ästhetischer mit mystisch-religiöser Erfahrung. Dieses Projekt ist nicht mit einem atavistischen Rückzug ins Religiöse zu verwechseln, der die Komplexität der säkularen Moderne flieht, sondern stellt den Versuch dar, eine zeitgemäßen Synthese beider Traditionen zu schaffen, die in der Literatur wie im Leben ohnehin nicht mehr zu trennen sind.

Alle genannten Beispiele durchkreuzen Samuel Huntingtons Paradigma vom „Kampf der Kulturen“ mit seiner Vorstellung von aufeinanderprallenden kulturellen Blöcken. In Zeiten einer nicht selten ins Hysterische hineinspielenden globalen Terrorangst auf der einen, und einem radikal kulturchauvinistisch auftretenden Islamismus auf der anderen Seite, wird die Vorstellung von sich gegenüberstehenden Antagonisten, die, egal ob wir sie etwas altertümelnd 'Orient' und 'Okzident' nennen oder zeitgemäßer 'Europa' und 'Naher Osten', in sich einheitlich sind und dabei klar nach außen abgrenzbar, kaum noch hinterfragt. Darüber gerät die enge Verflechtung der Kulturen durch die Geschichte, die sich nicht auf gelegentliche Einflüsse reduzieren lässt, sondern kontinuierlich den Prozess der Entstehung und Entwicklung dieser Kulturen selbst begleitete und prägte, in Vergessenheit.

Die Bestimmung der eigenen kulturellen Identität durch Abgrenzung den Anderen gegenüber ging immer schon Hand in Hand mit einer kreativen Anverwandlung vorgeblich fremder Kulturelemente. Für ein solcherart dialektisches Verhältnis von Inklusion und Exklusion im Prozess der kulturellen Selbstvergewisserung von Kollektiven, ist die nahöstliche Geistes- und Kulturgeschichte der vergangenen beiden Jahrhunderte paradigmatisch. Die Linien, die das Eigene vom Fremden trennen, verlaufen, etwa im Kontext der modernen arabischen Literatur, keineswegs so gerade, wie es die herkömmlichen Definitionen und Kategorien vorgeben. Da diese Literatur im 19. Jahrhundert in Anlehnung an westliche Gattungen und Vorbilder und in Abgrenzung zur eigenen dichterischen Tradition entstand, hat sie längst ihre eigene Tradition ausgebildet, so dass das immer wieder zu hörende Argument, der Roman sei der arabischen Kultur als Import aus dem Westen fremd, zu kurz greift. Was einstmals übernommen wurde, bildete bald ein Eigenleben aus und hat sich selbständig weiterentwickelt. Daneben aber ist die Vertrautheit mit dem weiterhin überwiegend westlich dominierten Kanon der Weltliteratur geblieben, die sich heute zudem mit der Allgegenwart einer globalisierten Popkultur paart.

Aus diesem Umstand ergibt sich ein hermeneutisches Gefälle und ein Ungleichgewicht, bei dem nun aber ungewohnterweise die Vertreter des Westens die Rolle des Zurückgebliebenen einnehmen. So musste der Schriftsteller Michael Kleeberg staunen, als er im Rahmen des Literatenaustauschprojektes „West-östlicher Diwan“ den Libanon besuchte und feststellte, dass sich der praktizierte Kulturdialog überraschend unkompliziert gestaltete. Die Begegnungen in Beirut, schildert er in seinem libanesischen Reisetagebuch „Das Tier, das weint“, verliefen „ohne sich einander zunächst erklären zu müssen, ohne Positionen abstecken zu müssen, ohne dass plötzlich irgendwann zwischen den Worten sich ein Abgrund aufgetan hätte von Verständnislosigkeit“.

Kleeberg erkennt dann, dass „das Terrain auf dem wir uns treffen konnten“ ein abendländisches ist: „Ob Fußball oder Heidegger, ob Hegel, Althusser oder John Ford und Fellini, ob Pynchon oder Grass, alle Libanesen, die ich kennenlernte, leben nicht nur auf dem Boden ihrer eigenen kulturellen Geschichte, sondern auch auf dem unseren.“

Allein aufgrund dieser doppelten geistigen Beheimatung seiner Gastgeber, bekennt Kleeberg, sei ein Gespräch möglich, in umgekehrter Richtung türme sich hingegen eine Bringschuld auf: „Ob ich mich wohl je mit Abbas oder Rachid so über Abu l'Farradsch al-Isfahanis Buch der Lieder werde unterhalten können wie sie sich mit mir über Hölderlin und Marx?“

Der Autor arbeitet am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung zur „Topographie pluraler Kulturen Europas“ und unterrichtet moderne arabische Literatur an der Freien Universität Berlin

Andreas Pflitsch

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