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Akzentuiert. Der Brite Hawking war bekannt für seine amerikanische Computerstimme. Modernste Technik half ihm von Anfang an zu überleben – aber auch bei der Arbeit.

© imago/ZUMA Press

Stephen Hawkings Erkrankung: Botschaft aus einem erfüllten Leben

Stephen Hawking wird auch als Langzeitüberlebender in Erinnerung bleiben. Wie es dazu kam, gehört auch zu seinem Vermächtnis.

Stephen Hawking war Physiker. Seine wichtigsten wissenschaftlichen Leistungen vollbrachte er als junger Mann. Er gründete eine Familie, wurde Professor, schrieb Bücher, wurde zum Mentor vieler junger Wissenschaftler, ließ sich scheiden und heiratete wieder, ging mit 67 in den Ruhestand, blieb wissenschaftlich aktiv und starb mit 76. Wüsste man nicht, an welcher Krankheit er litt und würde man nur diesen biografischen Abriss kennen, sein Leben erschiene als das eines ganz normalen, wenn auch besonders erfolgreichen Akademikers.

Wenn man von seiner Diagnose weiß, erscheint es aber fast wie ein Wunder, dass er erst in einem Alter, das sehr nah an der durchschnittlichen Lebenserwartung eines männlichen Europäers liegt, verstorben ist. Dass er bis fast zuletzt produktiv arbeiten konnte, ist noch überraschender. Hawking berichtete jedenfalls selbst, dass ihm die Ärzte, als er 1963 von seiner Krankheit erfuhr, nur noch wenig Zeit gaben. Die Lebenserwartung bei Amyotropher Lateralsklerose (ALS) beträgt auch heute nach Diagnose im Mittel zwei bis fünf Jahre.

Traue keiner Statistik

Sein Tod ist Anlass, die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die er hinterlässt, hervorzuheben. Doch Hawkings langes Leben liefert jenseits von Physik und Kosmologie auch Erkenntnisse für Menschen, die an schweren Krankheiten leiden. Die erste hat ein anderer populärer Wissenschaftler, der amerikanische Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould formuliert, nachdem er selbst mit einer kaum heilbaren Krebsform diagnostiziert worden war. „The Median isn’t the Message“, lautet sie: Der „Median“, also das, was die epidemiologische Statistik als mittlere Lebenserwartung bei einer bestimmten Diagnose berechnet, ist für einen Patienten nicht die „Botschaft“, also nicht entscheidend. Kaum jemand landet auf diesem Punkt auf einer Kurve, manche sterben früher, manche leben aber auch deutlich länger, als es die Statistik möglich erscheinen lässt. Und das hängt nicht allein von Zufall und Schicksal ab. Gould etwa begann, sich akribisch über seine Krankheit zu informieren, suchte nach experimentellen Therapien und fand sie, suchte nach den besten Ärzten.

Er starb, Jahrzehnte nach seiner Diagnose, an einer anderen Krankheit. Der Median hatte ihm sechs Monate gegeben. Es gibt mehrere Gründe, warum Patienten jenen „Median“ nicht als definitive Botschaft verstehen sollten. Einer davon ist, dass eine Diagnose fast nie eine einzelne Krankheit benennt, die dann auch immer gleich verläuft. Weder bei Gould noch bei Hawking ist bekannt, ob die Diagnostik verfeinert wurde und sich vielleicht herausstellte, dass sie an nicht ganz so aggressiven Formen ihrer jeweiligen Erkrankung litten. Bei ALS aber ist mittlerweile bekannt, dass es unterschiedliche Formen gibt, die unterschiedlich schnell verlaufen und unterschiedlich stark bestimmte Muskelgruppen lähmen.

Optimale medizinische und technologische Unterstützung

Doch selbst wenn Hawking an einer etwas milderen Form litt, war es mehr als unwahrscheinlich, dass er bis 2018 leben würde – zumindest, wenn er dem „Median“ der Bevölkerung entsprochen hätte – also ein ganz normaler Mann mit durchschnittlicher Intelligenz und Einkommen gewesen wäre.

Es ist die andere Botschaft dieses Forscherlebens: Optimal medizinisch und in diesem Fall auch technologisch versorgt, ist es oft auch mit schweren, fortschreitenden Krankheiten möglich, ein erfülltes, produktives Leben zu führen. Komplikationen der Krankheit – etwa jene Lungenentzündungen, denen ALS-Patienten nicht selten letztlich erliegen und von denen auch Hawking zu berichten wusste – sind dann auch eher zu meistern.

Privilegien, die Erkrankte einfordern sollten

Ein Leben, dass länger ausfällt, als der Median es erwarten ließe, ist dann zwar nicht garantiert, aber am ehesten möglich. Diese gute und Patienten Hoffnung machende Botschaft ist aber gleichzeitig auch eine traurige. Denn auch für jemanden, der in einem armen Land an einem derart schweren Leiden erkrankt, ist der Median der in Industrienationen erhobenen Daten nicht die Botschaft. Er oder sie muss sogar oft damit rechnen, noch deutlich weniger Lebenszeit vor sich zu haben. Und selbst in Ländern wie Deutschland oder Großbritannien ist es nicht selbstverständlich, dass etwa ALS-Patienten intensiv betreut und mit Kommunikationstechnologie wie Hawking ausgestattet und darin geschult werden.

Davon, dass ihnen mit allen zur Verfügung stehenden und bezahlbaren Mitteln ermöglicht wird, weiterzuarbeiten und am Leben teilzunehmen, ganz zu schweigen. Leute wie Hawking sind privilegiert, weil sie prominent und wohlhabend sind. Aber auch, weil sie das Bestmögliche offensiv einfordern, sich informieren und sich nicht mit dem Median medizinischer Versorgung zufriedengeben. Dass Letzteres auch jeder normale Patient tun sollte, gehört auch zu den wichtigen Hinterlassenschaften dieses genialen Mannes jenseits aller Mittelwerte.

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