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Im 21. Jahrhundert stellen Versuchspersonen ohne Vorkenntnisse und Anleitung spontan Steinwerkzeuge her, die denen ähneln, die bereits vor Jahrmillionen von Urmenschen genutzt wurden.

© William D. Snyder

Erfindungsgeist statt Kultur: Steinwerkzeuge könnten immer wieder neu erfunden worden sein

Steinwerkzeuge gelten als frühe Zeugnisse menschlicher Kultur. Doch sie könnten dank einer anderen Fähigkeit entstanden sein als der, Wissen weiterzugeben.

Als Urmenschen vor Jahrmillionen in Afrika die ersten einfachen Werkzeuge aus Stein herstellten, könnten sie gleichzeitig den Grundstein für die menschliche Kultur gelegt haben. Zumindest war das in der Archäologie bisher eine gängige Annahme.

Claudio Tennie, William Snyder und Jonathan Reeves zeigen in der Zeitschrift „Science Advances“ jedoch mit Methoden der experimentellen Archäologie, dass es auch ganz anders gewesen sein könnte: Spontan könnten die Menschen der Steinzeit diese Technik immer wieder neu erfunden haben, erklären die Forscher von der Universität Tübingen.

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Seil, Stein, Glashalbkugel und Granitblock

Diese Theorie passt nicht so recht zur klassischen Ansicht, nach der das Schlagen einer scharfen Stein-Kante, mit der man ein totes Tier aufbrechen und zerlegen kann, recht kompliziert ist. Sobald ein Mensch in der Steinzeit diese Technik entdeckt hatte, haben andere in seinem Clan und später vielleicht auch andere Gruppen diese Vorgehensweise beobachtet und nachgemacht. So entstand eine in der Archäologie „Kultur“ genannte Tradition, mit der man solche scharfkantigen Steinwerkzeuge herstellt.

Die ältesten so hergestellten Steinwerkzeuge sind 2,6 Millionen Jahre alt. Weil sie in der Olduvai-Schlucht im Norden des heutigen Tansanias entdeckt wurden, spricht man von einer „Oldowan-Kultur“. „Zur Herstellung solcher Werkzeuge schlägt man zum Beispiel zwei Kieselsteine so gegeneinander, dass von einem ein kleines Stück absplittert und eine relativ scharfe Kante hinterlässt“, erklärt der Archäologe und Spezialist für die Herstellung von Feuerstein-Werkzeugen Alexander Binsteiner, der an der Tübinger Studie nicht beteiligt war.

An der nicht bearbeiteten runden oder ovalen Seite konnten solche Kieselsteine gut in der Hand gehalten werden, um mit der scharfen Kante Fleischstücke abzuhacken oder einen Knochen zu spalten, um so an das nahrhafte Knochenmark zu kommen. Nach dem englischen Wort für „hacken“ werden solche Steinwerkzeuge daher „Chopper“ genannt. Mit einer guten Anleitung sollte das Herstellen solcher Chopper möglich sein, ohne wird es jedoch schwierig – so die Annahme.

Ob dies zutrifft, haben Tennie und seine Kollegen jetzt mit einem Experiment untersucht: Jeweils 14 erwachsene Frauen und Männer sollten auf sich allein gestellt den mit einem Seil verschlossene Deckel einer Kiste öffnen. Zwar wusste jede Person, dass in der Kiste ein Gutschein im Wert von zehn Euro lag. Nur gab es keinerlei Hinweise, wie man das Seil mit Hilfe einer Halbkugel aus bemaltem Glas, eines mittelgroßen Kieselsteins und einem ebenfalls im Versuchsraum bereitliegenden Granitblock durchtrennen könnte.

2,6 Millionen Jahre ohne Veränderungen

Die meisten Frauen und Männer versuchten zunächst, das Seil ohne Schneide-Werkzeug zu öffnen, indem sie zum Beispiel mit dem Kieselstein auf das Seil schlugen oder versuchten, die Fasern mit den Fingern aufzudrehen. Blieb das erfolglos, versuchten sie meist rasch, aus den bereitgestellten Dingen eine primitive Klinge zu basteln. So schlugen sie die Glashalbkugel so lange gegen den Granitblock oder den Kieselstein, bis ein Splitter absprang und eine scharfe Kante entstand, mit der sie anschließend das Seil durchtrennten.

In der Steinzeit-Forschung sind vier unterschiedliche Schlag-Techniken bekannt, mit denen Oldowan-Werkzeuge in der frühen Steinzeit hergestellt wurden. Obwohl 25 der Versuchspersonen vorher noch nie solche Steinwerkzeuge in der Hand gehalten hatten, erfanden die meisten von ihnen zumindest eine dieser Techniken in den Versuchsräumen der Tübinger Universität neu. Bis zum Ende der Experimente beobachteten die Forscher sogar alle vier bekannten Altsteinzeit-Techniken der Oldowan-Kultur. „Offensichtlich klappt das Herstellen von diesen einfachen Steinwerkzeugen auch ohne Vorbilder“, sagt Tennie.

„Ich fand es schon immer ein wenig übertrieben, in diesem frühen Stadium der menschlichen Entwicklung bei den Oldowan-Steinwerkzeugen von Kulturen zu sprechen“, erklärt Binsteiner. „Anscheinend hatte die Gattung Homo schon früh das Bedürfnis und die Fähigkeit Geräte herzustellen, die den Alltag erleichtern“, sagt der Feuerstein-Spezialist. Daher seien solche Experimente ein wichtiger Mosaikstein beim Erforschen der menschlichen Natur.

Wenn heutige Menschen, die in einer von Technik geprägten Welt leben, zwar nicht das Rad, aber immerhin einfache Steinwerkzeuge neu erfinden, drängt sich die Frage auf, ob auch die in der Natur lebenden Urmenschen diese Eigenschaft hatten. Tennie vermutet das und untermauert seine Überlegung mit einem eindeutigen Hinweis: „Die Oldowan-Technik gibt es bereits seit 2,6 Millionen Jahren, ohne dass wesentliche Änderungen auftraten“, erklärt der Forscher. Dass das Wissen um die Herstellung dieser Werkzeuge von Generation zu Generation weitergegeben wurde, ohne dass es dadurch zu einer Akkumulation von Wissen gekommen ist, die auch die Steinwerkzeuge veränderte, sei unwahrscheinlicher, als dass sie immer neu erfunden wurden.

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