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Ernst Mayr: Starke Meinungen und drei Leidenschaften

Ernst Mayr verbrachte fast sein ganzes Leben damit, über die Evolutionstheorie nachzudenken – aus biologischer, historischer und philosophischer Sicht. In jeder dieser drei Karrieren hat er mehr geleistet als die meisten in einer einzigen Laufbahn.

„Bakterien haben keine Arten“, stellte Ernst Mayr einmal in einem Interview fest. Und fügte hinzu: „Warum man einen Zellkern braucht, um eine Art sein zu können, weiß ich auch nicht.“ Dass viele Mikrobiologen in diesem Punkt anderer Meinung sind, kümmerte ihn wenig. Mayr verstand eine Art als Gruppe von Populationen, die sich untereinander fruchtbar kreuzen, und von anderen ähnlichen Gruppen reproduktiv isoliert ist. Wer Arten im traditionellen Sinne anhand von Merkmallisten definierte, beging in Mayrs Augen die Sünde des „typologischen Denkens“, das er zeitlebens bekämpfte – und dabei auch ab und an über das Ziel hinausschoss.

Geboren wurde Ernst Mayr 1904 in Kempten im Allgäu, gestorben ist er 2005 in Bedford, Massachusetts. Dazwischen lagen 101 Jahre, die er in großen Teilen damit verbrachte, über die Evolutionstheorie nachzudenken: aus biologischer, historischer und philosophischer Perspektive. Mayr begann seine erste Karriere, die des Naturforschers und Evolutionsbiologen, im Jahr 1923 als Student in Greifswald. Drei Jahre später, 1926, schloss Mayr sein Studium ab und wurde Assistent von Erwin Stresemann, Kustos der Vogelsammlung des späteren Berliner Naturkundemuseums. Hier lernte Mayr die Prinzipien der Systematik, übte sich in der Beobachtung kleinster Unterschiede, und erfuhr die neuesten Ansichten zur Artbildung.

"Gucken und päng!", so beschrieb Mayr seine Expedition nach Neu-Guinea

Mayrs Leben nahm eine entscheidende Wende, als er zwischen 1928 und 1930 Expeditionen nach Neu-Guinea und zu den Solomon-Inseln begleitete. „Gucken und päng!“: so beschrieb Mayr einmal seine Arbeit auf dieser Reise. Allein in den ersten acht Monaten sammelte er über 3000 Vogel-Bälge. Die Auswertung der Sammlung führte ihn 1931 an das American Museum of Natural History in New York – und dort blieb Mayr die nächsten 20 Jahre. Hier schrieb er neben vielem anderen sein vielleicht einflussreichstes Buch: „Systematics and the Origin of Species, from the Viewpoint of a Zoologist“ (1942). Es war ein eindringliches Plädoyer dafür, dass aus Sicht der Systematik die Evolutionstheorie nach Darwin durchaus mit den Erkenntnissen der Genetik vereinbar war. Was heute selbstverständlich erscheint, bedurfte damals noch sorgfältiger Argumentation; zur Etablierung dieser sogenannten synthetischen Theorie der Evolution hat Mayr entscheidend beigetragen.

Mayr blieb einer der zentralen Denker der Evolutionstheorie – berühmt ist er insbesondere für seine Auffassung der Art, die bereits zitiert wurde. Mayr klärte indessen nicht nur, was eine Art ist, sondern auch, wie neue Arten entstehen; und löste damit eine Frage, die Darwin selbst nicht hatte beantworten können. Wenn geographische Isolation oder andere Faktoren eine Population spalten, habe dies zur Folge, so Mayrs Vorschlag, dass die Teilpopulationen verschiedenen Selektionsdrücken unterliegen und sich daher unterschiedlich entwickeln – bis zu einem Punkt, an dem keine fruchtbare Kreuzung mehr möglich ist: Aus einer Art wurden zwei.

In den Jahren nach 1945 begann die zweite Karriere von Mayr: die des öffentlichen Fürsprechers der Evolutionsbiologie als Disziplin. Als in den 1950er Jahren der rasante Aufstieg der Molekularbiologie begann, setzte er sich insbesondere dafür ein, dass die traditionellen Fächer – Zoologie und Botanik – ihren Platz in der Evolutionsforschung behielten. 1953 wurde Mayr als Professor nach Harvard berufen, wo er 1961-70 zusätzlich als Direktor am Museum of Comparative Zoology wirkte. 1975 wurde er emeritiert – was ihn jedoch nicht daran hinderte, unermüdlich weiter zu arbeiten: Allein in den Jahren nach seiner Emeritierung schrieb Mayr mehr als 200 Artikel in Fachzeitschriften und 14 Bücher.

Viele dieser Werke widmeten sich nun der Geschichte und Philosophie der Biologie – die dritte Karriere Ernst Mayrs begann. Mayrs wissenschaftshistorische und -philosophische Arbeiten kreisten, wen wird es überraschen, vor allem um die Geschichte der Evolutionstheorie: einerseits um Darwins Arbeiten und ihre Rezeption, andererseits um die Entstehung und Struktur der synthetischen Theorie, an der Mayr selbst maßgeblich beteiligt war. Wir verdanken ihm etwa eine kluge Analyse von Darwins Theorie, in der Mayr fünf voneinander unabhängige theoretische Elemente identifizierte. Weiterhin leistete Mayr Pionierarbeit mit seinen Beiträgen zu anderen Persönlichkeiten in der Geschichte der Evolutionstheorie, etwa zu Louis Agassiz, Jean-Baptiste de Lamarck und August Weismann.

Seine kategorischen Thesen ernteten viel Widerspruch - und genau das wollte er

Sein wissenschaftshistorisches Hauptwerk erschien 1982 unter dem Titel „The Growth of Biological Thought: Diversity, Evolution, and Inheritance“. Hierin verfolgte Mayr auf fast tausend Seiten die Geschichte biologischer Konzepte, indem er die jeweils vorherrschenden Ideen einer Epoche vorstellte, ihren Wandel beschrieb und ihren Einfluss auf die Wahrnehmung der „großen“ Probleme – insbesondere solcher Probleme, die durch die neue Theorie der Evolution gelöst wurden, zu der Mayr selbst beigetragen hatte. Das Werk bietet einen Überblick über zweitausend Jahre Biologiegeschichte, von Aristoteles bis zur synthetischen Theorie der Evolution – wobei dieser umfassende Anspruch zugleich die Schwächen des Werkes mitbedingt. Denn bisweilen erscheinen die Verhältnisse einzelner Epochen doch allzu stark vereinfacht; und manchmal wird allzu deutlich der Weg anhand des Zieles nachgezeichnet. Wie stark die Biologiegeschichte von Mayrs nicht immer unbefangener Sicht geprägt wurde, wird erst in den letzten Jahren deutlich, seit wir etwa die morphologische Tradition des 19. Jahrhunderts, deren Haltung Mayr sehr schnell als „essentialistisch“ verworfen hatte, aus ganz neuer Perspektive kennenlernen.

Wie Mayr selbst sagte, hatte die Beschäftigung mit der Geschichte der Biologie für ihn zwei Funktionen: erstens sei sie eine hervorragende Einführung in die Inhalte der Einzelwissenschaft, zweitens helfe sie, die Struktur des Faches sowie aktuelle Kontroversen zu verstehen. Böswillig gedeutet, verstand er sie als biologische Hilfswissenschaft. Ähnliches gilt für Mayrs Haltung zur Philosophie der Biologie. Auch hier leistete er bedeutende Beiträge zu Fragen, von deren Klärung die Evolutionsbiologie selbst profitierte: zu den Grundlagen der Systematik; zum Wert des Denkens in Populationen gegenüber dem Denken in biologischen Typen; und gegen die Tendenz, biologische Phänomene auf chemische und physikalische Naturgesetze reduzieren zu wollen.

Mayr gab offen zu, dass er eine Schwäche für kategorische, gar polemische Aussagen hegte – und sei es nur, um Widerspruch auf den Plan zu rufen. Er hatte starke Meinungen, die er nicht müde wurde zu verteidigen, und machte sich damit nicht nur Freunde. Ernst Mayr hat in jeder seiner drei Karrieren mehr geleistet als die meisten in einer einzigen Laufbahn, und noch lange wird sich die Evolutionsbiologie, die Geschichte und Philosophie der Biologie mit seinen Arbeiten auseinandersetzen. Viele werden vielem widersprechen, sei es in Bezug auf Artkonzept oder Artbildung, sei es in Bezug auf die adäquate Geschichte der Evolutionstheorie; aber kaum jemand wird unbeeindruckt bleiben.


- Die Autorin ist Assistenzprofessorin für Geschichte und Philosophie der Wissenschaften in Bern. Seit 2005 ist sie Mitglied der Jungen Akademie.

Kärin Nickelsen

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