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Die Sommerzeit verstärkt den sozialen Jetlag, also das Abweichen der Schul- und Arbeitszeiten von den inneren Rhythmen. Dadurch steigt die Gefahr für chronischen Schlafmangel. 

© Getty Images/Carol Yepes

Sieben Monate in der falschen Zeitzone: Ab Sonntag wird das Leben automatisch ungesünder

Die Mehrheit der Bevölkerung befürwortet eine ganzjährige Sommerzeit. Ob sie sich über die gesundheitlichen Risiken bewusst ist? Scheint nicht so.

Das Meinungsforschungsinstitut Forsa fragt im Auftrag der Krankenkasse DAK seit 2013 jährlich nach, ob die Menschen die Zeitumstellung sinnvoll finden.

Vor zehn Jahren votierten 69 Prozent der Befragten für eine Abschaffung, in diesem Jahr sind es 76 Prozent. Für den Fall, dass es keine Zeitumstellung mehr gibt, ist eine leichte Mehrheit von 55 Prozent für eine ganzjährige Sommerzeit. Auch dieses Ergebnis deckt sich mit früheren Umfragen.

Wissenschaftliche Befunde zu möglichen negativen Folgen der Sommerzeit für die Gesundheit scheinen weitgehend unbekannt zu sein. 

Dietrich Henckel, Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik            

Allerdings hat die DAK in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik (DGfZP) erstmals drei ergänzende Fragen aufgenommen. Sie sollten klären, wie viele Menschen durch die Sommerzeit potenziell gesundheitsgefährdet sind, weil sie an Arbeits- oder Schultagen einen Wecker stellen müssen oder anders geweckt werden.

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Außerdem ging es darum, ob die Menschen die Sommerzeit auch befürworten, wenn die Konsequenzen für ihr Schlafverhalten benannt werden.

Wörtlich wurden gut 1000 repräsentativen Personen gefragt, ob es sinnvoll sei, „dass die Gesellschaft mit der Umstellung der Uhren auf Sommerzeit von Frühjahr bis Herbst morgens eine Stunde früher aufsteht, um abends eine Stunde länger Tageslicht zu haben.“ Und erstaunlicherweise sagten 60 Prozent der Befragten „ja“.

Ähnlich viele fanden es sogar in Ordnung, dass im Falle einer ganzjährigen Sommerzeit die Sonne im Dezember erst zwischen neun und 9:30 Uhr aufgehen würde.

„Diese Resultate haben uns überrascht“, sagt Dietrich Henckel, Vorstand der DGfZP. „Das Einverständnis mit dem früheren Aufstehen und der langen Dunkelheit an Wintermorgen“ lege zwar nahe, „die Befragten wüssten, worauf sie sich mit dauerhafter Sommerzeit einlassen“. Doch offensichtlich seien ihnen die „wissenschaftliche Befunde zu möglichen negativen Folgen für ihre Gesundheit weitgehend unbekannt“.

Sommerzeit verstärkt sozialen Jetlag

Letztlich verstärkt die Sommerzeit den sogenannten sozialen Jetlag, also das Abweichen der Schul- und Arbeitszeiten von den inneren, biologischen Rhythmen. Dadurch steigt die Gefahr für chronischen Schlafmangel.

Und der erhöht unter anderem das Risiko für Typ-2-Diabetes und Übergewicht, Herz-Kreislauf-Krankheiten sowie Depressionen und viele andere psychische Leiden. Selbst das Risiko für manche Krebserkrankungen scheint erhöht, wenn man zu oft im falschen Rhythmus lebt und zu wenig Schlaf bekommt.

72 
Prozent der Senioren schlafen aus

Entscheidend für das Votum pro Sommerzeit sei vermutlich die Hoffnung auf mehr am Tageslicht verbrachte Freizeit, so Henckel. Der Großteil der Gesellschaft arbeitet vom frühen Morgen bis in den Nachmittag hinein – und das überwiegend in geschlossenen Räumen. Freizeit findet hingegen oft am Abend und späten Nachmittag statt. Für viele zähle „die Freizeitassoziation“, sagt Henckel.

Weniger wichtig – oder schlicht unbekannt – scheint es den Menschen hingegen zu sein, dass es ihnen in der Sommerzeit wegen der abendlichen Helligkeit in der Regel nicht gelingt, eine Stunde früher müde zu werden. Sie stehen also sieben Monate morgens eine Stunde früher auf, schlafen aber abends meistens keine Stunde früher ein.

Plus an Freizeitqualität wird mit Schlafmangel erkauft

Das Plus an Freizeitqualität wird letztlich mit dem Risiko des Schlafmangels bezahlt. Wie problematisch dieser Umstand ist, unterstreicht die Antwort auf die dritte neue Forsa-Frage. In ihr ging es darum, ob die Personen zum Aufstehen einen Wecker benötigen.

Mehr als zwei Drittel der Mittelalten und mehr als drei Viertel der Jüngeren müssen demnach ihren Schlaf regelmäßig beenden, bevor sie ausgeschlafen sind. Sie alle gehören zu denjenigen, deren Schlafmangel die Sommerzeit theoretisch vergrößern dürfte.

Mehr als zwei Drittel der Mittelalten und mehr als drei Viertel der Jüngeren müssen demnach ihren Schlaf regelmäßig beenden, bevor sie ausgeschlafen sind. 

© Getty Images/Westend61 / Westend61

Nur Senioren können oft auf den Wecker verzichten. 72 Prozent von ihnen schlafen meist aus. Interessant ist, dass sie gleichzeitig die einzige Altersgruppe sind, die mehrheitlich für die ganzjährige Standardzeit votiert. Nur scheinbar ein Widerspruch, denn die meisten Senioren sind nicht gezwungen, ihre Freizeit abends zu verbringen. Sie bekommen auch am Vormittag viel Tageslicht und profitieren von der Sommerzeit kaum.

Zeitpolitiker Henckel machen die Resultate besorgt. Die DGfZP fordere schon lange mehr Aufklärung über die Erkenntnisse der Wissenschaft der biologischen Uhren, Chronobiologie genannt: „Besonders die Altersgruppen, die nach den chronobiologischen Befunden am meisten gesundheitlichen Nachteile durch die Sommerzeit haben, sind die, die mit den größeren Mehrheiten für die dauerhafte Sommerzeit votieren.“ Das sei fatal.

Chronobiologe sieht Wissenslücken in der Politik

Till Roenneberg, Münchner Professor für Chronobiologie, geht sogar noch weiter. Er sieht Wissenslücken in der Politik. Die Zusammenhänge zwischen der Sommerzeit und ihren Gefahren für die Gesundheit weiter Teile der Bevölkerung „lassen sich durch begutachtete wissenschaftliche Literatur untermauern. Solange Politiker diese Zusammenhänge jedoch nicht kennen oder begreifen, werden sie mit hoher Wahrscheinlichkeit falsche Vorschläge machen und unterstützen.“

Für unsere Biologie ist es Mittag, wenn die Sonne am höchsten Punkt steht, ganz egal, was dann das Zifferblatt der Uhr zeigt.

Anna Wirz-Justice, Chronobiologin

Zu den vielen wichtigen Erkenntnissen der Chronobiologie gehört, dass unser Schlaf-Wach-Rhythmus durch die sogenannte Sonnenzeit gesteuert wird. Das bedeutet, die inneren Rhythmen des Menschen folgen dem Lauf der Sonne, nicht der Armbanduhr oder dem Wecker. Für unsere Biologie sei es Mittag, wenn die Sonne am höchsten Punkt stehe, ganz egal, was dann das Zifferblatt der Uhr zeige, sagt die Basler Chronobiologin Anna Wirz-Justice.

Letztlich ist Sommerzeit ein sieben Monate anhaltendes Leben in der falschen Zeitzone. Die Abschaffung der Zeitumstellung sei also wichtig, sagt Till Roenneberg, aber eine ganzjährige Sommerzeit wäre noch schlimmer als die jetzige Situation. Für diese Idee prägte der Chronobiologe im Jahr 2018 den Begriff „Cloxit“.

Damals hatte eine Befragung der Europäischen Union zur Zeitumstellung ähnliche Ergebnisse gebracht wie die aktuelle Umfrage von DAK und DGfZP. Viele Politiker:innen forderten anschließend, der Mehrheit zu folgen und die ganzjährige Sommerzeit einzuführen.

Dass die Mehrheit aber nicht immer sinnvoll entscheide, habe bereits der „Brexit“ gezeigt, so Roenneberg: Auch als die Briten für ein Ausscheiden aus der EU votierten, hätten sie „über etwas abgestimmt, über dessen Folgen sie zuvor nicht ausreichend informiert worden sind.“

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