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Rory Staunton bei Flugstunden

© Rory Staunton Foundation

Sepsis: Überwältigt von Keimen

Jedes Jahr erleiden 180 000 Menschen in Deutschland eine Sepsis, 60 000 sterben daran. Ein Nationaler Aktionsplan soll die Gefahr eindämmen.

Das Museum, die Texte! Für Dorothea Stanic war es ein Unding, kurz vor einer Ausstellungseröffnung im Bett zu liegen. Aber ein Husten schüttelte die Berlinerin, sie hatte hohes Fieber und war extrem erschöpft. Blöde Erkältung, dachte sie. Das muss ich wohl aussitzen.

Doch das Fieber stieg weiter. Lungenentzündung, stellte ihr Hausarzt fest und verordnete ein Antibiotikum. Es half nicht. Als eine Freundin zwei Tage später zu Besuch kam, erschrak sie. Stanic strich ständig nervös über die Bettdecke, redete wirres Zeug und sah etwas blau im Gesicht aus. Der eilig herbeigerufene Notarzt packte Stanic sofort in den Krankenwagen. „Ich weiß nur noch, dass ich nicht mehr konnte“, sagt sie. „Alles andere verschwimmt.“

Dass sie von Krankenhaus zu Krankenhaus verlegt wurde und auch die Ärzte auf der nächsten Intensivstation verzweifelt um ihr Leben kämpften, bekam sie kaum mit. Als sie ins künstliche Koma versetzt wurde, entschwand sie völlig in eine andere Welt. Fast zwei Wochen wandelte sie durch Bilder von Hieronymus Bosch und erlebte eine bizarre Episode nach der anderen.

Erst viel später wurde ihr klar, was wirklich passiert war. Die Erreger aus ihrer Lunge hatten eine Sepsis ausgelöst (siehe Grafik). Sie hatten ihren ganzen Körper überflutet und dessen Gegenwehr hatte sie beinahe umgebracht.

Rorys Ärzte erkannten den Ernst der Lage nicht

Nicht immer geht es so glimpflich aus. Rory Staunton, ein zwölfjähriger Junge aus New York, stürzte beim Basketball und schrammte sein Bein auf. Eine Lappalie. Am nächsten Abend hatte Rory starke Schmerzen und erbrach sich ständig. Dann kam das Fieber, das stieg und stieg und den Jungen schwächer werden ließ. „Ein Magen-Darm-Keim“, sagte die Kinderärztin, schickte die Familie aber trotzdem ins Krankenhaus. Auch in der Notaufnahme erkannten die Ärzte den Ernst der Lage nicht, er wurde mit ein paar Schmerzmitteln nach Hause geschickt. Rory starb zwei Tage später an Sepsis.

Verschiedene Ausprägungen der Sepsis.
Verschiedene Ausprägungen der Sepsis.

© Tsp/world-sepsis-day.org

Seit diesem 1. April 2012 engagieren sich seine Eltern dafür, dass anderen dieses Schicksal erspart bleibt. Im Staat New York setzten sie neue Regeln und Checklisten durch, damit Sepsis künftig früher erkannt und so gut wie möglich behandelt wird, berichtete der Vater – Ciaran Staunton – Anfang der Woche auf dem ersten Sepsisgipfel in Berlin. Unter anderem diese Regelungen sind Vorbild für das, was die Gipfelorganisatoren um Konrad Reinhart und Frank Brunkhorst vom Universitätsklinikum Jena mit einem Nationalen Aktionsplan und Veranstaltungen zum heutigen Welt-Sepsis-Tag in Deutschland etablieren wollen.

Sepsis sei eine der häufigsten und zugleich am wenigsten bekannten Krankheiten, argumentieren sie. In einer Emnid-Umfrage hatte die Hälfte der rund 1000 Befragten schon einmal das Wort Sepsis gehört. Doch nur jeder Zehnte wusste, dass es die schwerste Verlaufsform von Infektionen mit Bakterien, Viren und Pilzen ist, und konnte die Faktoren richtig benennen.

20 000 Leben pro Jahr retten

Nach Hochrechnungen erkranken jedes Jahr 180 000 Menschen in Deutschland an einer Sepsis, etwa 60 000 sterben daran. Das sind zu viele, sagen Brunkhorst und Reinhart. Wenn alle Verantwortlichen an einem Strang ziehen, bestehende Regeln konsequent eingehalten werden und auch Laien die Symptome einer Sepsis einordnen können, könnte man 20 000 Leben pro Jahr retten. Das sei umso nötiger, als die Zahl der Sepsisfälle in den Industrienationen jedes Jahr um sieben bis acht Prozent steige.

Die Gründe für diesen Anstieg sind vielfältig. Nur 30 bis 40 Prozent, die später auf eine Intensivstation müssen, haben sich wie Dorothea Stanic und Rory Staunton außerhalb des Krankenhauses mit einem Keim infiziert. Außerdem können dank Hightechmedizin auch sehr alte und kranke Patienten operiert werden. Ob das in jedem Fall sinnvoll ist, ist fraglich. Denn ihr Immunsystem ist so schwach, dass es sich bei einer Wundinfektion kaum gegen den Erreger wehren und die Situation leicht außer Kontrolle geraten kann.

Klebsielle unter dem Elektronenmikroskop
Resistent. Gegen einige Klebsiellen helfen nicht einmal Reserve-Antibiotika.

© RKI

Menschen, die wegen einer anderen Erkrankung lange auf einer Intensivstation zwischen Leben und Tod schweben, sind ebenfalls besonders gefährdet, eine Sepsis zu erleiden. Denn über kurz oder lang können ganz normale Keime auf ihrer Haut über Schläuche oder Beatmungsgeräte in den Körper eindringen. Nur ein Drittel dieser Fälle können Ärzte und Pfleger zum Beispiel durch eine bessere Händehygiene verhindern, betont Petra Gastmeier, die Leiterin des Instituts für Hygiene der Charité. Die Null-Toleranz-Politik in Amerika bestrafe Häuser, in denen besonders Schwerkranke behandelt werden. „Das hat nur zu geschönten Statistiken geführt.“

Ärzten gehen die Antibiotika aus

Trotzdem muss die Hygiene besser werden. Denn den Ärzten gehen die Antibiotika aus. Immer wieder bringen Patienten auf ihrer Haut oder im Darm gramnegative Bakterien mit, gegen die selbst Reservemittel nicht mehr helfen. Diese multiresistenten Keime seien ein Risiko, so groß wie der Bioterrorismus, sagte Großbritanniens oberste Gesundheitswächterin Sally Davies im März. Kurz danach meldete sich Thomas Frieden, der Direktor der amerikanischen Seuchenbehörde CDC, zu Wort: „Wir haben ein sehr ernstes Problem und müssen Alarm schlagen.“

Zuerst in Ländern wie Griechenland entstanden, wo allzu sorglos mit Antibiotika umgegangen wird, erreichen sie längst auch Mitteleuropa. Selbst in Schweizer Seen wurden sie bereits nachgewiesen. Was passieren kann, wenn ein Mensch mit solchen Keimen ins Krankenhaus kommt, zeigte sich von Juli 2010 bis Juli 2012 am Uniklinikum Leipzig. Ein einziger Patient aus Rhodos löste dort einen Ausbruch aus. Weil Ärzte und Pfleger angesichts der Gefahr nicht vorsichtig genug waren, wurden multiresistente Klebsiellen (KPC) zwei Jahre lang von Patient zu Patient getragen. 92 Schwerkranke waren betroffen, 39 von ihnen starben. „Selbst in Lagerungskissen, die nach einer gründlichen Desinfektion drei Monate in Plastiktüten eingelagert waren, konnten wir diesen Keim noch nachweisen“, sagt Udo Kaisers vom Uniklinikum Leipzig.

Der Ruf nach besserer Hygiene reiche nicht, um Sepsistote zu verhindern, sagt Reinhart. Vor allem müsse man mit der Industrie neue Antibiotika entwickeln und mit den vorhandenen vorsichtiger umgehen. Die Öffentlichkeit könne ihren Teil dazu beitragen. Bei Erkältungen sei schließlich kein Antibiotikum nötig. Und Impfungen gegen Masern, Grippe und Pneumokokken verhinderten Infektionen, aus denen mitunter ein Flächenbrand im Körper werden kann.

Aktionen zum Welt-Sepsis-Tag: Um 11 Uhr macht heute eine Tanzperformance auf dem Washingtonplatz am Hauptbahnhof auf das Problem aufmerksam. Um 16 Uhr folgt eine Kundgebung am Brandenburger Tor. 600 schwarze Stühle stehen dort für je 300 Sepsisfälle in Deutschland.

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