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Restrisiko: Bei Katastrophen stößt das Recht an Grenzen

Vom Umgang mit dem Unberechenbaren: Auf einem Symposium in Freiburg beschäftigten sich Referenten mit Katastrophe, ihrer Vorhersage und den Bewältigungsstrategien.

Der Tsunami in Japan, das Erdbeben in Chile oder die Tornados in den USA – Ereignisse, die das Leben vieler Menschen in Trümmer legten. Regelmäßig gehen Schreckensbilder wie diese um die Welt, und die Zuschauer fragen sich vielleicht: Werden Naturkatastrophen nicht schlimmer, Überschwemmungen häufiger, die Winter härter, die Sommer heißer? Droht also eines Tages die Apokalypse, der Weltkollaps? Auf einem Symposium an der Freiburger Universität wurden keine Ängste geschürt. Stattdessen beschäftigten sich die Referenten mit Katastrophen, ihrer Vorhersage und den Bewältigungsstrategien.

Menschen überall auf der Welt werden mit unerwarteten, katastrophalen Ereignissen konfrontiert, die individuelle, persönliche Ausmaße haben oder von gesellschaftlicher Relevanz sind. Der Mathematiker Gerd Antes packt das in eine Formel: „Der erwartete Schaden wird als Produkt aus Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenshöhe bestimmt.“ Dies sei die versicherungsmathematische Grundlage für Vorkehrungen, die oft fälschlich als Absicherung bezeichnet würden. „Tatsächlich wird damit aber keine Sicherheit geschaffen, sondern nur die Kompensation von erlittenem Schaden ermöglicht.“

Für häufige katastrophale Ereignisse funktionierten die Verfahren, da ausreichend Methoden und Daten für die Schätzungen der Eintrittswahrscheinlichkeiten zur Verfügung stünden. Die Ansätze versagten allerdings fast vollständig, wenn der Schaden nur extrem selten eintrete, dann aber sehr hoch sein könne, wenn sich also der erwartete Schaden dem Ausdruck „null mal unendlich“ nähere – einer Multiplikation mit unbestimmtem Ergebnis.

Die Versicherer versuchen die angenäherte Null als Sicherheit zu begreifen. Aber das Restrisiko sei tatsächlich ein Risiko. „Man muss nur lange genug warten, um nicht nur jedes denkbare Unglück zu erleben, sondern auch das Undenkbare zu erfahren.“ Die Vorhersage des Zeitpunkts sei aber unmöglich. „Da wissenschaftliche Methoden hier an ihre Grenzen stoßen, brauchen wir den gesellschaftlichen Diskurs darüber, welche Risiken wir eingehen wollen“, sagte Antes.

Nicht nur wissenschaftliche Methoden stoßen an ihre Grenzen, sondern auch der Mensch. Erst wenige Wochen ist es her, dass es wegen eines Sandsturms in der Nähe von Rostock zu einer Massenkarambolage kam. Acht Menschen verloren ihr Leben. In den Folgetagen beschwerten sich Betroffene, ihnen sei nicht angemessen geholfen worden. Die Retter seien an ihren Autos vorbeigelaufen, um an anderer Stelle einzugreifen. Bei jeder Katastrophe, egal welchen Ursprungs oder welchen Ausmaßes, stehen die Helfer unter massivem Stress. „Sie werden bei Katastrophen in Extremsituationen gebracht, in denen sie schwerwiegende Entscheidungen treffen müssen“, sagt Walter Perron vom Institut für Strafrecht und Strafprozessrecht der Universität Freiburg. Wenn Ressourcen und Zeit nicht ausreichten, alle zu retten, müssten Prioritäten gesetzt werden. „Das heißt schlimmstenfalls: das eine Menschenleben wird gegen das andere abgewogen“, sagt Perron. Im Sinne der medizinischen Triage, bei der man medizinische Prioritäten setze, sei das ganz normal.

Dennoch sind Katastrophen ein juristisches Minenfeld. Die Rechtsordnung in Deutschland besagt, dass jedes Menschenleben gleich viel wert ist. „Auch ein Flugzeug mit einer Bombe an Bord, das auf ein Hochhaus zufliegt, darf nicht abgeschossen werden, wenn darin unschuldige Passagiere sitzen“, sagt Perron. Ein Abschuss würde gegen die Rechte der Passagiere verstoßen, selbst wenn mit ihrem Tod dreimal so viele Menschen im Hochhaus gerettet werden könnten. „Für das Gesetz spielt es keine Rolle, dass die Flugzeuginsassen keine Chance mehr haben.“

Als Jurist würde Perron nicht entscheiden wollen, eine kleinere Gruppe zum Wohle der Allgemeinheit zu opfern. Denn in Frankfurt wäre dann eine kleine Maschine, die zu nah an einige Bankengebäude heranflog, abgeschossen worden. Je nach kultureller Prägung seien in solchen Fällen aber die Empfindungen andere. „In den USA steht das Wohl der Allgemeinheit stärker im Vordergrund, da muss der Einzelne eher über die Klinge springen“, sagt Perron. Das Los der Retter ist, dass sie bisweilen nach einer Katastrophe nur falsch entscheiden können. Sie müssen eine Auswahl treffen, wo das Gesetz keine zulässt. Eine Änderung der Gesetze, die den Rettern mehr Orientierung gibt, wird es nicht geben. „Das Recht stößt da schlicht an seine Grenzen.“ Es könne keine Regelung geben, die stets richtig ist. Christine Pander

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