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Das unbemannte "Progress"-Raumschiff stürzte aus ungeklärter Ursache ab.

© dpa

Transportflug für ISS: Raumfrachter "Progress" über dem Pazifik abgestürzt

Der russische "Progress"-Raumfrachter ist am Freitagmorgen verglüht. Das größere Problem ist Schrott, der oben bleibt.

Von Rainer Kayser, dpa

Um kurz nach vier Uhr morgens unserer Zeit war es soweit. Der russische "Progress"-Raumfrachter, seit Tagen außer Kontrolle, verglühte nach mehrtägigem Irrflug über dem Pazifik beim Eintritt in die Erdatmosphäre. Dabei hatte alles beim Start am 28. April noch wie Routine ausgesehen. Das unbemannte Raumschiff mit 2,4 Tonnen Versorgungsgütern für die Internationale Raumstation (ISS) hob an Bord einer „Sojus“-Rakete in Baikonur ab. Doch anderthalb Sekunden vor dem Absprengen der dritten und letzten Antriebsstufe brach der Funkkontakt ab. Irgendetwas war schief gegangen. Radarbeobachtungen entdeckten den Frachter auf einer anderen als der geplanten Umlaufbahn, umgeben von 44 kleineren Trümmerstücken. Kurzzeitig übertrug eine Kamera noch einmal Bilder zur Erde, sie zeigten den Frachter in unkontrollierter, taumelnder Bewegung. Dann schaltete sich der Frachter endgültig ab.

Seither bewegte sich das 7,2 Tonnen schwere Raumfahrzeug nicht auf die Raumstation zu, sondern auf einer rasch absinkenden Bahn in Richtung Erde. Die ISS-Crew musste sich dennoch keine Sorgen machen. Ihre Vorräte reichen noch bis Mitte August, zudem stehen weitere Frachter für die Versorgung bereit. Doch auf der Erde sorgte der bevorstehende Absturz für ängstliche Schlagzeilen: Fällt uns der russische Frachter auf den Kopf? Im Gegensatz zum kontrollierten Absturz alter Satelliten lässt sich kaum vorhersagen, wann und wo Progress niedergehen wird.

„Zwischen dem späten Donnerstagabend und Freitagmittag“, so lautete die Prognose, die die europäische Raumfahrtbehörde Esa am Donnerstagmittag veröffentlicht hat. Bei einer Umlaufzeit von etwa 80 Minuten konnte der Frachter theoretisch an vielen Orten niedergehen. Der Transporter würde dabei zwar fast vollständig in der Atmosphäre verglühen, einige Bauteile aus Titan oder Edelstahl schmelzen aber nicht vollständig und könnten die Erdoberfläche erreichen. „Das Risiko für die Bevölkerung ist nicht gleich null, aber – verglichen mit anderen Risiken des täglichen Lebens wie etwa Autofahren – extrem gering“, sagte Holger Krag vom Büro für Weltraummüll der Esa.

Der Frachter ist kein Einzelfall. Pro Jahr stürzen etwa 50 ausgediente Satelliten und ausgebrannte Raketenstufen zur Erde. Trotzdem ist bislang kein Mensch durch aus dem All fallende Trümmer zu Schaden gekommen.

Gefährlich ist der Weltraummüll für die Raumfahrt selbst. Denn ein großer Teil der Trümmerstücke zerborstener Satelliten und Raketenstufen fällt nicht sofort zur Erde zurück, sondern kreist für lange Zeit mit hoher Geschwindigkeit um unseren Planeten. Das US Space Surveillance Network überwacht mit 17 Radaranlagen und 8 Teleskopen die Bahnen von etwa 13 000 Objekten, die größer als fünf Zentimeter sind. Immer wieder muss beispielsweise die ISS ihre Bahn ändern, um solchen rasenden Geschossen auszuweichen. Über 600 000 Trümmerstücke mit einem Durchmesser größer als ein Zentimeter vermutet die Esa in der Erdumlaufbahn – und 170 Millionen Partikel im Millimeterbereich. Bei typischen Geschwindigkeiten von 25 000 km/h können selbst solche kleinen Trümmer ein Raumfahrzeug beschädigen.

Bis der gesamte Müll durch die geringe Reibung der dünnen Restatmosphäre zum Absturz beziehungsweise zum Verglühen gebracht worden wäre, würden Jahrtausende vergehen, schätzen Experten. Noch allerdings nimmt der Müll im All nicht ab, sondern zu.

Trümmerwolken nach Weltraum-Zusammenstößen

Besonders katastrophal war der Test einer chinesischen Anti-Satelliten-Waffe 2007. Eine Langstreckenrakete zerfetzte einen alten Wettersatelliten in über 2500 Trümmerteile mit Größen über einem Zentimeter, die sich rasch ausbreiteten. Für eine weitere Trümmerwolke sorgte 2009 der Zusammenstoß eines amerikanischen Iridium- und eines russischen Kosmos-Satelliten. Fachleute befürchten, dass solche Kollisionen einen Lawineneffekt in Gang setzen könnten: Bruchstücke zerstören weitere Satelliten und erzeugen dadurch weitere Trümmer. Dadurch könnte die Nutzung des erdnahen Weltraums eines Tages unmöglich werden. „Wir haben Hinweise darauf, dass wir uns bereits am Rand einer solchen Kaskade befinden“, sagt Krag.

Im Rahmen ihrer Initiative „Sauberer Weltraum“ sucht die Esa deshalb nach Wegen, weiteren Weltraummüll zu vermeiden – etwa das gezielte Verschieben von Satelliten in einen „Friedhofsorbit“ nach dem Ende des Einsatzes. Zusätzlich werden Technologien erforscht, um ausgediente Raumfahrzeuge und größere Trümmerstücke aus der Umlaufbahn zu entfernen. Eine große Herausforderung ist dabei, an ein großes, manövrierunfähig durchs All taumelndes Objekt anzudocken. Von Netzen über Tentakel und Harpunen bis zu Robot-Armen – alle Optionen werden von den Esa-Forschern derzeit in Augenschein genommen.

Besser ein Absturz als ein "Geisterschiff" in der Umlaufbahn

Für 2018 plant das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt im Rahmen einer „Orbitalen Service-Mission“ ein Andockmanöver an einen havarierten Satelliten mithilfe eines Robot-Arms. Die bei diesem Test gesammelten Erfahrungen sollen in die für 2021 geplante Esa-Mission „e.DeOrbit“ einfließen. Simulationen der Nasa und der Esa zeigen, dass allein die Beseitigung von zehn großen Objekten auf besonders gefährlichen Bahnen pro Jahr ausreicht, um eine lawinenartige Zunahme der Trümmer zu verhindern.

Doch noch ist die kosmische Müllabfuhr nicht einsatzbereit. Aus Expertensicht ist die Havarie des Progress-Frachters deshalb glimpflich verlaufen: Ein – wenn auch unkontrollierter – Absturz innerhalb weniger Tage ist weit besser als der langfristige Verbleib eines defekten Raumfahrzeugs im erdnahen Raum.

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