zum Hauptinhalt
Die Silhouette eines Kleinkinds ist im im Gegenlicht in einem Flur zu sehen.

© imago/photothek

Psychoanalyse und die Übersetzung von Traumata: Die rätselhafte Botschaft der Eltern

Wie kann die Psychoanalyse den Traumata begegnen, die in der frühesten Kindheit wurzeln? Gastbeitrag zur Jahrestagung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft in Hamburg.

Wie erinnern sich Missbrauchsopfer an das von ihnen Erlittene? Diese Frage treibt Betroffene ebenso um wie ihr Umfeld, ihre Therapeuten – und teilweise auch die Gerichte. Unsere Gastautorin Ilka Quindeau forscht als Soziologin und Psychologin mit eigener Psychoanalysepraxis in Frankfurt am Main zur Entstehung von Sexualität. Dabei wendet sie sich gegen eine biologische Definition von Sexualität, indem sie diese aus der aus ihrer Sicht unbewusst sexualisierten Beziehung der Eltern zu ihrem Kind herleitet. Allgemeiner versucht Quindeau dabei zu klären, inwiefern traumatische Erlebnisse an unbearbeitete frühkindliche Traumata anknüpfen.

Ihre Thesen, die sie hier am Beispiel des Schriftstellers Christian Kracht entwickelt, sind streitbar und provokativ. Historische Grundlagen der Psychoanalyse nach Sigmund Freud und Jean Laplanche interpretiert Quindeau für die aktuelle psychoanalytische Praxis. Ihr Essay ist die gekürzte Fassung eines Vortrags auf der Jahrestagung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft in Hamburg, die am Donnerstag, 31. Mai, beginnt. Quindeau, die Vorsitzende der Sigmund-Freud-Stiftung in Frankfurt ist, tritt im Oktober ihr Amt als Präsidentin der Internationalen Psychoanalytischen Universität in Berlin an. (Tsp)

Vor wenigen Tagen löste der Schriftsteller Christian Kracht einigen Wirbel aus. Er eröffnete seine Frankfurter Poetikvorlesung mit einer Erzählung über sich selber als Zwölfjährigen. Er sei von einem anglikanischen Geistlichen in einem Internat in Kanada gezüchtigt worden, der sich dabei sexuell befriedigte. Die Eltern, denen er sich damals anvertraut hätte, hätten das für eine Übertreibung ihres fantasiebegabten Sohnes gehalten. Lange habe er sich dann gefragt, ob er dies wirklich erlebt oder sich nur eingebildet habe. Erst nachdem der verstorbene Geistliche von anderen ehemaligen Schülern angezeigt worden war, sei seine Erinnerung daran wieder aufgetaucht.

Die Enthüllung schlug wie ein Blitz in die Feuilletons ein. Die „Süddeutsche Zeitung“ etwa mutmaßte: „Das Trauma des Missbrauchs zieht sich durch Krachts gesamtes Werk“. Dann verblüffte Kracht in seiner zweiten Vorlesung durch den Satz: „Alles, was sich zu ernst nimmt, ist reif für die Parodie, auch diese Vorlesung.“ Die Parodie, so sagte er, könne als Heilmittel für den Missbrauch dienen. Seine Aussage enthält eine tiefe Weisheit. Mit der Parodie, die in ironischer Form das Parodierte spiegelt, verschafft sich das Subjekt Distanz. Es stellt etwas schmerzlich Widerfahrenes in übertriebener, verzerrter Weise dar, kann in der Fantasie sein Ausgeliefertsein überwinden und Kontrolle über das Geschehene erhalten.

Missbrauch? Das Publikum ist angewiesen auf die Deutung des Autors

Entscheidend scheint mir die Verwirrung, die Krachts Inszenierung ausgelöst hat, die Verunsicherung über die Kategorien wie „wahr“ und „erfunden“. Die „Frankfurter Neue Presse“ schilderte es so: „Und während man noch betäubt von der Überwältigung durch die Macht des Moments an der selbstverwalteten Campus-Trinkhalle zusammensteht, erscheint alles wieder wie ein Rätsel: Ist das jetzt wirklich geschehen? Oder war das nur Einbildung? Ist diese Vorlesung Christian Krachts größter, bedeutendster Roman?“

Das Publikum, berührt von Krachts Inszenierung, war ihr passiv ausgeliefert, angewiesen auf die Deutung des Autors. Während er vom Missbrauch erzählte, drehte er in gewisser Weise den Spieß von Macht und Ohnmacht um und brachte das Publikum in die Rolle von Hilflosen. Mir scheint diese kulturelle Inszenierung eines Traumas bis ins Detail meisterhaft. Der Vorlesungstext von Kracht ist nicht nachlesbar. Dem Publikum war jede Ton- und Bildaufnahme verwehrt. Alles war auf den Moment der Inszenierung konzentriert, die nachträglich entziffert werden muss, ohne die „wahre“ Lesart zugänglich zu machen.

Christian Kracht hat auch uns als Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen auf kongeniale Weise vorgeführt, wie problematisch es ist, in einem Trauma ein universelles Erklärungsmuster zu sehen, das Unverständliches plausibel macht – sei es eine unerklärliche Angst, ein hartnäckiges Symptom oder ein beeinträchtigter Bildungsweg. Zu schnell sind wir auch im Alltag häufig bereit, einem Gewaltereignis auslösende Bedeutung zu geben, anstatt zu eruieren, was dies unbewusst für das Subjekt bedeutet.

"Universelle Verführungssituation" zwischen Erwachsenem und Säugling

Gerade in therapeutischen Kontexten kommt es darauf an, zu berücksichtigen, dass alles Erzählen Produkt nachträglicher psychischer Verarbeitung ist und in den Modi der Verschiebung, Verdichtung und Rücksicht auf Darstellbarkeit verläuft. Ich möchte diese unbewussten Dimensionen hervorheben und die Konzepte von Trauma und Konflikt, Trieb oder Begehren zusammenbringen, die in Forschung und Therapie der vergangenen 20 Jahre oft auseinandergefallen sind.

Zentral für Freuds Traumatheorie war der Gedanke, dass „der Hysteriker an Reminiszenzen“ leide. Jean Laplanche weist hingegen das Primat des Anderen und die Nachträglichkeit als zentrales Strukturmoment des Psychischen aus. Er sieht in der universellen Verführungssituation zwischen Erwachsenem und Säugling das Urbild des Traumas. Meine Hypothese ist, dass sich die Urverführung strukturell in einer späteren, traumatischen Situation reproduziert, dass sie nachträglich erst mit Bedeutung aufgeladen in aller Wucht gefühlt wird.

Pointiert gesagt: Erst Erinnerung konstituiert das Trauma. Lebensgeschichtliche Szenen, die an Traumata mitwirken, geschehen im intersubjektiven Raum, und wie die Erinnerung ist auch das Trauma selbst intersubjektiv konstituiert. Freud entwickelte die Verknüpfung zweier traumatischer Erlebnisse am Beispiel des sexuellen Traumas. Das erste Erlebnis, die primäre Verführungsszene, zeigt noch keine Wirkung, da das Kind weder über die genitale Erregung verfügt noch über die kognitiven Möglichkeiten, die Szene zu verstehen.

Erst mit 25 erfasst der Patient, was er als Baby erlebte

Erst die zweite Szene, nach der Pubertät, führt zum traumatischen Anstieg der Erregung, obwohl sie häufig aus einem banalen, alltäglichen Ereignis besteht. Wirksam wird sie durch die Assoziation mit der erinnerten ersten Szene. Nachträglichkeit ist am Werk: Erinnerungsspuren werden, je nach Entwicklungsstand und neuen Erfahrungen, umgearbeitet, sie erhalten Sinn und psychische Wirksamkeit.

So erklärte Freud zu seinem berühmten Patienten, dem „Wolfsmann“, dass ein Traum des Vierjährigen dessen Beobachtung des Koitus im Alter von anderthalb „zur nachträglichen Wirkung bringt“. Der Analysierte, so Freud, verlieh im Alter von 25 „Eindrücken und Regungen aus seinem vierten Jahr Worte“, die er als Kind „nicht gefunden hätte“. Mit anderthalb konnte das Kind auf seinen Eindruck nicht reagieren. Ergriffen wird es davon erst, als der Eindruck sich im Alter von vier wiederholt, und erst mit 25 kann der Analysand erfassen, „was damals in ihm vorgegangen“ war. Mehrfach erfuhr das Geschehen Umschriften, frühere Erfahrungen sind dabei bedeutsam für spätere, und vice versa.

Jean Laplanche nun fordert uns auf, nicht vom Subjekt aus zu denken, sondern vom Anderen her. Vom Anderen, erklärt er, gehe eine Botschaft aus, die vom Subjekt übersetzt werden muss. Die Entwicklung des Kindes beginnt damit in einer asymmetrischen Kommunikationssituation von Anrede und Antwort; das Kind wird strukturell dem Anderen unterworfen. Menschliche Entwicklung wird nicht vom Ich aus konzipiert, sondern vom Anderen, vom Fremden, Unverfügbaren her. Diese Blickrichtung entspricht dem zentralen Anliegen einer Psychoanalyse, der es um das Verstehen des Unbewussten geht, das dem Ich nicht Zugängliche, das Unverfügbare.

"Urverführung" nach Laplanche: Das unbewusste Begehren der Erwachsenen

Der Kern aber des Unbewussten ist das Sexuelle, die Konfrontation mit dem unbewussten Begehren der Erwachsenen, was Laplanche als „Urverführung“ bezeichnet. Sein Übersetzungsmodell spricht von „rätselhaften Botschaften“, die der Säugling nur unzureichend verarbeiten kann. Jedes Stillen und Füttern, jedes Wickeln oder Baden ist mit unbewussten, sexuellen Fantasien des Erwachsenen verbunden, die auch diesem nicht zugänglich sind. Beide Dimensionen menschlichen Lebens, die der späte Freud voneinander getrennt hatte – die Selbsterhaltung und das Sexuelle – wirken in jedem Moment des Lebens zusammen. Das macht die grundlegende Asymmetrie in der Beziehung von Erwachsenem und Kind aus.

In die entstehende psychische Struktur schreibt sich diese Konfrontation des Säuglings mit dem unbewussten Begehren des Erwachsenen ein, was Laplanche „Intromission“ nennt, um den traumatischen Charakter der Dynamik deutlich zu machen. Die „rätselhafte Botschaft“ wird gleichsam in den Säugling intromittiert, „hineingeschickt“, der ihr zunächst passiv ausgeliefert ist. Der Säugling sucht die rätselhafte Botschaft zu entziffern, ist jedoch zum Verarbeiten noch gar nicht in der Lage, weshalb unübersetzte, unübersetzbare Reste zurückbleiben, die Freud „Reminiszenzen“ nannte.

Innere Fremdkörper werden eingeschrieben, die den Kern des Unbewussten des Kindes, das Sexuelle, bilden. Gewiss ist „der kompetente Säugling“ durchaus fähig zu Gegenseitigkeit und Aktivität. Doch die asymmetrische, sexualisierte Verführungsszene ist in ihrer Struktur universell. Jeder Mensch hat sie erlebt. Passivität und Ausgeliefertsein wiederum sind zentrale Elemente traumatischen Geschehens, und somit darf die universelle Verführungssituation als „Urbild“ des Traumas gelten, als sein Prototyp.

Traumatische Situationen werden als "Überlebsel" eingekapselt

Zum Trauma gehört die Reizüberflutung des Organismus, die nicht adäquat psychisch verarbeitet werden kann, und in einer Art Notfallmaßnahme eingekapselt werden muss, damit die Psyche weiter funktioniert. So bilden sich innere Fremdkörper, „Überlebsel“, unbewusste Fantasien. Sie sind Reste von Szenen, die nicht integriert werden konnten, wie Situationen von Todesangst, eine Vergewaltigung, eine Geiselnahme oder ein schwerer Unfall. Traumatisierend kann außerdem sein, wenn etwa soziale Situationen angemessenes Reagieren verhindern. Nicht zuletzt können innerpsychische Konflikte traumatisch wirken, wenn das Verarbeiten, das Symbolisieren von Erfahrung behindert werden.

Laplanche spricht in seinem Modell bewusst von Übersetzung und nicht von Interpretation. Ihm geht es um die auffordernde Ansprache des Anderen, die dazu drängt, dass ich sie in eine mir geläufige Sprache bringe. Zentral ist also nicht nur der Fremdkörper, der eingekapselt werden muss, sondern dessen Botschaft. Wird dieses „Überlebsel“ wiederbelebt, trifft die Fantasie auf ein Ereignis, das sie „kennt“, und lädt es phantasmatisch mit Bedeutung auf. Kann sie dann wieder nicht übersetzt werden, führt das zu bedrohlichem Anstieg von Erregung, denn das Subjekt hat aufs Neue keine Verfügungsgewalt über die Bedeutungsgebung. Welche Bedeutung einem traumatischen Ereignis zukommt, mit welchen unbewussten Fantasien es sich verbindet, das ist entscheidend.

"Das plötzliche Aktuell-Werden einer alten unbewussten Angst"

Traumatische Erfahrungen im Erwachsenenalter rühren aufgrund der ohnmächtigen Situation an die grundlegende Passivität, mit der das Kind den unbewussten Fantasien Erwachsener ausgesetzt war. Dies wurde vom Säugling nie integriert und wird nun, im Trauma, erstmals real und überwältigend spürbar. Daher der Eindruck „eines plötzlichen Aktuell-Werdens einer alten unbewussten Angst“, wie Theodor Reik 1926 treffend bemerkte: „Das dunkle Unheil, das wir unbewusst erwartet haben, ist plötzlich da.“

Für das Verarbeiten von Traumata ist es unerlässlich, den unbewussten Übersetzungsversuchen des Subjekts nachzugehen, und die Übertragungen zu bearbeiten, die sich aus den komplexen „Überlebseln“ ergeben. Hier besteht die Kunst darin, diese Übertragungen wahrzunehmen. Das Modell der Übersetzung ist dabei ein kluger Assistent.

Ilka Quindeau

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false