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Wegweisend. Wohin es mit dem Unibetrieb nach der Coronakrise geht, wird debattiert.

© Bernd Wannenmacher

Offener Brief fordert schnellere Rückkehr in die Unis: Professoren warnen vor künftiger Geringschätzung der Präsenzlehre

Rund 2500 Unilehrende fürchten in einem Offenen Brief, die Präsenzlehre verliere nach der Coronakrise langfristig an Wertschätzung. Unileitungen reagieren verwundert. 

„Zur Verteidigung der Präsenzlehre“ – so ist ein offener Brief überschrieben, den inzwischen rund 2500 Lehrende aus Universitäten unterzeichnet haben. Darin wollen sie nicht nur „den Wert der Präsenzlehre wieder in Erinnerung rufen“, wie es heißt. Sie fordern auch eine Rückkehr zu Präsenzformaten: „Was die Schule zu leisten in der Lage ist, sollte auch Universitäten möglich sein.“

Die Initiatorinnen und Initiatoren – von den ersten zehn Unterzeichnenden stammen acht aus der Germanistik – setzen sich dabei für eine „vorsichtige, schrittweise und selbstverantwortliche Rückkehr zu Präsenzformaten“ aus: in kleineren Gruppen und in größeren zeitlichen Abständen, die einzelne Unis und Fakultäten individuell entwickeln sollen. 

Sorge, die Präsenzlehre werde dauerhaft vernachlässigt

Einer der Initiatoren, der Bonner Germanistik-Professor Johannes F. Lehmann, sagte dem RBB-Inforadio, es sei ihm ein Rätsel, warum es an den Schulen und Kitas beispielsweise wieder losgehe, an den Unis aber nicht. Die selbstständige, kritische Aneignung von Inhalten setze zwingend Präsenz voraus.

In dem offenen Brief wird sogar die Sorge geäußert, die Universitäten könnten nach dem aktuellen Digitalsemester dauerhaft die Präsenzlehre vernachlässigen.

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Zwar hätte sich ohne digitale und virtuelle Formate das Sommersemester 2020 nicht durchführen lassen, geben die Initiatoren zu. „Im Gefühl des plötzlich möglichen digitalen Sprungs“ drohten aber mehrere Aspekte verloren zu gehen, die „von grundlegender Bedeutung für das Prinzip und die Praxis der Universität sind“ (Fachhochschulen kommen im Brief nicht vor).

„Wir weisen auf die Gefahr hin, dass durch die aktuelle Situation die herkömmlichen Präsenzformate an Wertschätzung und Unterstützung durch die Hochschulleitungen, die Bildungsministerien und die Politik verlieren könnten“, heißt es.

Unsere Berichte zur Corona-Lage an den Hochschulen

Gerade dieser Punkt kann in der Politik und bei Unileitungen nicht nachvollzogen werden. „Ich habe da wenig Befürchtungen“, sagt Günter M. Ziegler, Präsident der Freien Universität Berlin, auf Anfrage. „Zur Universität gehört die Präsenz, das gehört auch für mich als Hochschullehrer zu meinem Konzept von Lehren und Lernen.“

"So viel Präsenzlehre wie möglich, so viel Digitallehre wie nötig"

Für das Wintersemester müsse aber eben noch genau geprüft werden, wie man vor dem Hintergrund der Pandemie und einer möglichen zweiten Welle verantwortungsvoll Präsenzveranstaltungen anbieten kann.

In Berlin soll es auf einen Mix von Digital- und Präsenzlehre hinauslaufen, wie Ziegler bestätigt: „Wir werden so viel Präsenzlehre wie möglich und so viel Digitalveranstaltungen wie nötig anbieten.“ Die Hochschulen würden sich in einem Spagat befinden: Um möglichst gut planen zu können, müsse man sich eigentlich bald festlegen: „Wir wollen aber heute nichts zusagen, was wir in knapp fünf Monaten nicht halten können.“

Ziegler verweist auf Errungenschaften und Erkenntnisse der digitalen Lehre hin, die auch in Nach-Corona-Zeiten den Unibetrieb verbessern können. Ein Beispiel, das er nennt: Viele Dozierende würden beobachten, dass Studierende in großen Vorlesungen über den Chat sehr viel mehr und sehr gute Fragen stellen, als sie das in Präsenzvorlesungen tun.

TU-Präsident: Massen-Vorlesungsformate müssen eh renoviert werden

Offenbar sei online die Hemmschwelle geringer. Es sei also gut denkbar, solche Chatfunktionen beizubehalten, selbst wenn es mit Massenvorlesungen irgendwann zurück in den Hörsaal geht.

TU-Präsident Christian Thomsen sagt, traditionelle Massen-Vorlesungsformate habe man schon seit langem renovieren müssen. Insofern sei es richtig, jetzt all das Gute zu übernehmen, was man in der Coronazeit auf einmal zwangsläufig digital habe machen müssen.

Er denkt vor allem an die Asynchronität von aufgezeichneten Vorlesungen: dass sich also Studierenden online verfügbare Vorlesungen portionsweise dann anschauen können, wenn es ihnen am besten passt: „Das ist eine Zunahme von Work-Life-Balance für Studierende, aber auch für Lehrende.“ Den Stoff besser rezipieren könnten Studierende so auch.

"Stickige überfüllte Hörsäle sind nicht erstrebenswert"

Was anderes seien Übungen, Seminar und Tutorien in kleinen Gruppen, die natürlich weiter als Präsenzveranstaltungen gebraucht würden.

Auch Berlins Wissenschaftsstaatsekretär Steffen Krach (SPD) hält es für den richtigen Weg, Digital- und Präsenzlehre "klug miteinander zu verbinden, wie das viele namhafte akademische Institutionen weltweit schon tun". Das aktuelle Semester zeige doch beides: wie wichtig die Präsenzlehre sei und wie vielfältig die Möglichkeiten digitalen Lernens und Lehrens. 

„Ich finde es wirklich gut, dass wir so intensiv über das Thema Lehre diskutieren", erklärte Krach auf Anfrage. 

Unverständlich findet Jens Brandenburg, hochschulpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, den Offenen Brief. Mit der Verteidigung herkömmlicher Präsenzlehre „springt der Offene Brief viel zu kurz“, erklärte Brandenburg. Stickige, überfüllte Hörsäle seien ebenso wenig erstrebenswert wie langatmige Videokonferenzen. Der Digitalisierungsschub dürfe nach der Krise nicht einfach verpuffen. „Wir brauchen Mut zur Veränderung und eine Qualitätsoffensive in der Hochschullehre“, fordert Brandenburg.

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