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UCSF clinical research coordinator Max Dougherty connects a neural data port in the study participant’s head to the speech prosthesis system on Monday, May 22, 2023, in El Cerrito, Calif as part of Dr. Edward Chang’s study of speech neuroprostheses.

© Noah Berger

Neue Wege der Kommunikation: Gelähmte können dank Gehirn-Computer-Schnittstelle wieder „Sprechen“

Durch Krankheiten oder Schlaganfall können viele Menschen nicht mehr sprechen. Nun stellen Forscher Ansätze vor, Kommunikation wieder zu ermöglichen. Experten sprechen von einem Wendepunkt.

Von Stefan Parsch, dpa

Gehirn-Computer-Schnittstellen sollen Menschen etwa nach einem Schlaganfall wieder das Sprechen ermöglichen. Zwei solche Ansätze stellen zwei Forschungsgruppen im Fachjournal „Nature“ vor. In einer Studie konnte eine Patientin durch ihre Gedanken durchschnittlich 62 Wörter pro Minute äußern, in der anderen Arbeit kam eine Frau sogar auf 78 Wörter pro Minute. Das entspricht etwa der halben Sprechgeschwindigkeit im Englischen von etwa 150 Wörtern pro Minute.

In der einen Studie behandelte die Gruppe um Francis Willett von der kalifornischen Stanford University die Patientin Pat Bennett, die an der Nervenkrankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) erkrankt ist. Diese führt zu fortschreitenden Muskellähmungen, was auch das Sprechen betrifft.

Die Forscher implantierten ihr vier Mikroelektroden-Arrays in Areale des Großhirns, die mit dem Sprechen in Verbindung stehen. Die damit gemessenen Hirnaktivitäten wurden per Kabel an ein Computersystem übertragen, das die Signale in Schrift umwandelte.

Die Patientin Pat Bennett trainiert den Sprachassistenten der kalifornischen Stanford University.

© Steve Fisch

Etwa zweimal pro Woche trainierte die Patientin mit dem System, indem sie vorgegebene Texte in Gedanken sprach - dabei stellten die Forscher das System auf ihre Hirnmuster ein. Nach vier Monaten war die Frau in der Lage, 62 Wörter pro Minute zu äußern, indem sie nur daran dachte. Diese Geschwindigkeit übertrifft frühere Systeme um mehr als das Dreifache.

„Für Menschen, die nicht sprechen können, bedeutet dies, dass sie mit der größeren Welt verbunden bleiben, vielleicht weiter arbeiten und Beziehungen zu Freunden und Familie pflegen können“, wird Bennett in einer Stanford-Mitteilung zitiert.

Sprachen mithilfe eines Avatars

Auch die zweite Studie eines Teams um Edward Chang von der University of California in San Francisco beruht auf einer Fallstudie. Diese Frau hatte durch einen Schlaganfall die Sprechfähigkeit verloren. Die Forscher nutzten bei ihr das Verfahren der Elektrokortikografie: Dabei werden Hirnsignale direkt auf der Hirnoberfläche gemessen, ohne dass Nadeln ins Gehirn gesteckt werden müssen, wie es bei Mikroelektroden-Arrays der Fall ist. Allerdings müssen die Messelektroden bei dem Verfahren auf einen größeren Bereich des Großhirns aufgebracht werden.

Eine Teilnehmerin an Dr. Edward Changs Studie über Sprachneuroprothesen versucht, leise einen Satz zu sprechen, während das Sprachprothesensystem ihre Gehirnsignale in synthetisierte Sprache und die Gesichtsbewegungen eines Avatars umsetzt.

© Noah Berger

Die Gruppe um Chang decodierte dabei die Signale, die vom Gehirn an jene Muskelgruppen gesendet werden, die am Sprechen beteiligt sind. Dabei konzentrierte sie sich auch auf 39 Lauteinheiten, sogenannte Phoneme, um die Wörter zu erkennen - dies soll das Erkennen der Wörter beschleunigen.

Das Sprechen übernahm dann auf einem Monitor ein Avatar, der in Echtzeit Mund und Lippen entsprechend der decodierten Laute bewegte. Dabei erklingt sogar eine Rekonstruktion der ursprünglichen Stimme der Patientin: Denn für die Sprachmodulation nutzte das Team die Tonaufnahme einer Ansprache, die die Frau bei ihrer Hochzeit gehalten hatte.

Zudem war die Patientin hier in der Lage, dem Avatar mit ihren Gedanken drei Gesichtsausdrücke in jeweils drei unterschiedlichen Intensitäten zuzuordnen: glücklich, traurig und überrascht. „Diese Fortschritte bringen uns der Entwicklung einer echten Lösung für Patienten viel näher“, betont Chang laut einer Mitteilung seiner Universität.

Es ist ein großer Fortschritt auf dem Weg zur Wiederherstellung einer schnellen Kommunikation für gelähmte Menschen, die nicht sprechen können.

Francis Willett, Stanford University

Diese Patientin erreichte einen Durchschnitt von 78 Wörtern pro Minute. Allerdings betrug die Wortfehlerrate bei einem Vokabelumfang von 1024 Wörtern ein Viertel. Das Stanford-Team erreichte bei seiner Patientin eine etwas geringere Fehlerquote von knapp 24 Prozent, bei einem Vokabular von 125.000 Wörtern.

Von einem Gerät, das Menschen im Alltag nutzen können, sei das System noch weit entfernt, betont Stanford-Forscher Willett. „Aber es ist ein großer Fortschritt auf dem Weg zur Wiederherstellung einer schnellen Kommunikation für gelähmte Menschen, die nicht sprechen können.“

Ein Meilenstein der Entwicklung von Gehirn-Computer-Schnittstellen

In einem „Nature“-Kommentar schreiben Nick Ramsey von der Universitätsklinik Utrecht und Nathan Crone von der Johns Hopkins University School of Medicine in Baltimore von einem Wendepunkt in der Entwicklung solcher Technologien: „Die beiden Berichte sind ein Beweis dafür, dass die Kommunikation mithilfe implantierbarer Gehirn-Computer-Schnittstellen wiederhergestellt werden kann.“ Ein nächster Schritt sei nun, die Elektrodenimplantate mit einer drahtlosen Verbindung auszustatten.

Es ist also noch ein langer Weg, bis der Einsatz dieser Technologien in der Breite vorstellbar ist.

Surjo Soekadar, Leiter der Arbeitsgruppe Klinische Neurotechnologie an der Berliner Charité

Thorsten Zander von der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg sieht einen ingenieurstechnisch klaren Fortschritt. „Die vorgelegten Ergebnisse sind in ihrer praktischen Anwendung sehr vielversprechend.“ Allerdings seien sie nur an einzelnen Menschen getestet worden, die mehrere Wochen dafür trainiert hätten.

Surjo Soekadar, Leiter der Arbeitsgruppe Klinische Neurotechnologie an der Berliner Charité, spricht von einem Meilenstein in der Entwicklung von Gehirn-Computer-Schnittstellen. Aber auch er betont, dass die beiden Patientinnen speziell für die Studien ausgewählt wurden. „Es ist also noch ein langer Weg, bis der Einsatz dieser Technologien in der Breite vorstellbar ist.“

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