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Wissen: Nach dem Urknall ist vor dem Urknall

Der Mathematiker Roger Penrose sieht unser Universum zwischen Zeit und Zeitlosigkeit hin- und herpendeln

Erfahrungsgemäß gibt es zu allem etwas Vorhergegangenes. Sonne und Erde zum Beispiel existieren nicht seit ewigen Zeiten. Sie entstanden vor 4,5 Milliarden Jahren aus sich verdichtendem Gas und Staub. Ihrem heißen Ursprung ging der Kollaps einer interstellaren Gaswolke voraus. Könnte es sein, dass sich vor dem heißen Beginn des Universums etwas Ähnliches ereignete? Was war vor dem Urknall?

Viele Forscher werfen diese Frage mittlerweile auf. Physiker wie Martin Bojowald von der Pennsylvania State University in den USA verstehen den Urknall nicht mehr als absoluten Anfang, sondern als Übergang. Sein Kollege Stephen Hawking aus Cambridge hat bereits auf verschiedene Weise versucht, die Urknall-Kosmologie zu erweitern. Hawking zufolge könnte dem Urknall etwa der Kollaps eines Vorläufer-Universums vorangegangen sein. Und der Doyen der Zunft, Roger Penrose von der Universität Oxford, vertritt inzwischen ebenfalls die Ansicht, dass es die Welt schon immer gab.

In seinem soeben erschienenen Buch „Zyklen der Zeit“ zäumt Penrose das kosmische Pferd von hinten auf: Wenn unser Universum sich immer weiter ausdehnen und irgendwann nur noch Strahlung zurückbleiben sollte, würde es in völliger Zeitlosigkeit enden. Alle Zeitmaßstäbe gingen verloren. Doch selbst dann wäre ein zyklisches Universum denkbar. Ein neues Weltzeitalter könnte auch ohne vorherigen Kollaps beginnen. Die Zeit würde schlicht mit einem neuen Urknall zurückkehren.

Penroses Theorie eines Universums, das zwischen Zeitlosigkeit und Zeit hin- und herpendelt, ist ungewöhnlich und aufgrund ihrer mathematischen Komplexität, genau wie sein Buch, nicht leicht zugänglich. Doch es ist nicht das erste Mal, dass er die Fachwelt mit anspruchsvollen Thesen aufrüttelt. Penrose wurde 1931 als Sohn eines Genetikers im britischen Colchester geboren und studierte Mathematik. In den 60er Jahren machte er mit Berechnungen zum Kollaps von Sternen auf sich aufmerksam.

Sterne produzieren Energie durch die Umwandlung von Wasserstoff in Helium und andere Elemente. Doch was geschieht, wenn ein Stern, der um vieles größer ist als unsere Sonne, seinen Brennstoff verfeuert hat? Kann die Schwerkraft auch bei einem derart massiven Stern noch durch irgendwelche inneren Kräfte ausgeglichen werden? Oder stürzt er unaufhaltsam in sich zusammen? Kollabiert er immer weiter?

Forscher hatten lange vermutet, ein Zustand unendlicher Dichte wäre vermeidbar, wenn der in sich zusammenfallende Stern nicht symmetrisch ist. Penrose kam zu einem anderen Ergebnis. Er wies nach, dass sich die ganze Sternenmaterie zu einem Punkt zusammenzieht. Im Rahmen der Allgemeinen Relativitätstheorie ist diese Singularität unumgänglich. Sie bekam bald den Namen „schwarzes Loch“.

Stephen Hawking, damals Student, war beeindruckt. Er übertrug Penroses mathematische Techniken auf das Universum als Ganzes und verfolgte das expandierende All zurück zu den Ursprüngen. Wiederum führte Einsteins Theorie zu einem Zustand unendlicher Dichte: dem Urknall, der allem Anschein nach den Beginn der Zeit darstellte.

Im Rahmen der Allgemeinen Relativitätstheorie ist die Frage danach, was vor dem Urknall war, sinnlos. Eine Zeitskala, die sich über den Urknall hinaus in die Vergangenheit erstreckt, verliert jede Bedeutung. Auch der Anfang des Universums läge jenseits unseres Erkenntnisvermögens. Denn im Urknall bricht die Theorie in sich zusammen.

Weder Hawking noch Penrose nahmen dieses Resultat hin, obwohl es ihren eigenen Berechnungen entstammte und astronomische Beobachtungen in dieselbe Richtung wiesen. In den 60er Jahren entdeckten Forscher dann die kosmische Hintergrundstrahlung, eine Art Echo des Urknalls (siehe Kasten). Auch die Zweifel an der Existenz schwarzer Löcher sind verflogen. Längst sind Astronomen gigantischen Materieansammlungen im Herzen von Galaxien wie unserer Milchstraße auf der Spur sowie kleineren schwarzen Löchern an anderen Orten im All .

Schwarze Löcher krümmen den Raum und nehmen Materie wie kosmische Staubsauger in sich auf. Kosmologen sind sich jedoch weitgehend einig, dass Einstein nicht das letzte Wort gesprochen haben kann. Um zu verstehen, wie sich Materie im Innern schwarzer Löcher auf winzigem Raum verdichtet oder wie das Universum aus einem heißen Kern hervorging, bedarf es einer Vereinigung der Allgemeinen Relativitätstheorie mit der Quantenphysik. Denn erst die Quantenphysik erschließt das Verhalten der Welt im Kleinen.

Was aber geschieht mit der Raumzeit auf winzigen Längenskalen, kleiner als ein Atomkern? Löst sich unser Konzept von Raum und Zeit völlig auf? Wird die Raumzeit zu einem Quantenschaum? Lässt sich das Raum-Zeit-Kontinuum durch diskrete Strukturen wie Schleifen ersetzen, mit deren Hilfe Bojowald einen Blick hinter den Urknall riskiert? Oder benötigt man zur Zusammenführung von Relativitäts- und Quantenphysik die zehn- bzw. elfdimensionale Geometrie der Stringtheorie, mit der Hawking liebäugelt?

Die Konzepte sind vielfältig. Über Ansätze ist auch die in die Jahre gekommene Stringtheorie bisher kaum hinausgekommen. Penrose zieht daher neue Saiten auf. Auch ihm ist ein Urknall nicht genug. Und wieder erweist sich der Mathematiker aus Oxford als origineller Denker.

Ausgangspunkt für seine Überlegungen ist die erst 1998 entdeckte „dunkle Energie“. Niemand weiß, was sich dahinter verbirgt. Aber die Astrophysiker Saul Perlmutter, Brian Schmidt und Adam Riess hatten durch Messungen entfernter Sternenexplosionen zeigen können, dass sich die Expansion des Weltalls beschleunigt. Für diese Erkenntnis erhielten die Forscher diese Woche den Physiknobelpreis zugesprochen. Das Universum dehnt sich also schneller und schneller aus. Ursache ist eben jene „dunkle Energie“, eine mysteriöse abstoßende Kraft.

Diese Abstoßung beherrscht die Energiebilanz des Universums seit einigen Jahrmilliarden und womöglich bis in alle Ewigkeit hinein. Penrose verwirft daher den Gedanken, das All könnte irgendwann wieder in sich zusammenstürzen. Stattdessen spricht vieles dafür, dass sich die Galaxienhaufen weiter und weiter voneinander entfernen.

Der Kosmos dünnt aus und wird kälter. In zirka 100 Billiarden Jahren könnte der letzte Stern erloschen sein. Sehr viel später würden womöglich die Protonen zerfallen, die Bausteine der Atomkerne. Schließlich sollten, Hawkings Theorie zufolge, selbst schwarze Löcher verdampfen. Es bliebe vor allem Strahlung zurück.

„Was für eine deprimierende Langeweile!“, sagte sich Penrose. Aber Langeweile für wen? Wenn außer masselosen Lichtteilchen oder Gravitonen kaum noch etwas vorhanden wäre, könnte keine Langeweile aufkommen. „Der Punkt ist, dass für masselose Teilchen keine Zeit vergeht.“ Sie bewegen sich allesamt mit Lichtgeschwindigkeit. Nach Einsteins Theorie würde es daher unendlich lange dauern, bis die innere Uhr eines Lichtteilchens auch nur den ersten „Tick“ gemacht hätte. In einer Strahlungswüste gäbe es daher keine Zeitmaßstäbe mehr. Das Universum hätte die Zeit „vergessen“.

Ähnliche Betrachtungen stellt Penrose für den Urknall an. Im heißen Anfang des Alls verfügten sämtliche Teilchen über eine so hohe Energie, dass sie sich annähernd mit Lichtgeschwindigkeit bewegten. Auch diese Phase war durch Zeitlosigkeit geprägt, jedenfalls solange die Teilchen noch keine Ruhemasse besaßen. Ihre Masse erhielten sie vermutlich erst unterhalb einer bestimmten Temperaturschwelle, vergleichbar mit vielen anderen Phasenübergängen, die sich bei der Abkühlung eines Systems unter einen kritischen Temperaturwert ereignen: flüssiges Wasser gefriert plötzlich zu Eis, ein Nichtleiter verwandelt sich in einen Supraleiter, ein Metall wird zum Magneten.

Zwar kann der Laie kaum Gemeinsamkeiten zwischen dem heißen Anfangs- und dem kalten Endzustand des Kosmos erkennen. Penrose aber identifiziert die beiden Entwicklungsstadien miteinander. Mit einem mathematischen Kunstgriff schnurrt er die finale Ödnis des Alls zu einem Punkt zusammen. Da in einem mit Strahlung erfüllten All weder die Zeit messbar ist noch Längenmaßstäbe definiert werden können, sieht er keinen Unterschied mehr zwischen enormer Ausdehnung und extremer Kleinheit. Auch nicht zwischen Energien, die auf ein größeres oder kleineres Volumen verteilt sind, also zwischen kaltem Ende und heißem Anfang.

Nach dem Verschwinden der letzten Teilchen im All könnte sich auf diese Weise ein neuer Urknall ereignen. Die Materie hätte sich dann so weit verflüchtigt, dass sie im Vergleich zur Energie des Vakuums vernachlässigbar wäre. Es käme zu einer kosmischen Wiedergeburt, die einige Parallelen zur „Schöpfung aus dem Nichts“ aufweist. Das Nichts, das übrig bliebe, wäre gleichsam ein Energiefeld, aus dem ein Nachfolge-Universum hervorgehen würde, so wie unser Universum aus einem Vorgänger-Universum entstanden wäre.

Bisher begegnen viele Physiker der Theorie mit Skepsis. Kann die Materie völlig zerstrahlen? Wie sollen etwa geladene Teilchen wie Elektronen zum Verschwinden gebracht werden? Mit den gegenwärtigen physikalischen Gesetzen ist das Modell nicht ohne Weiteres in Einklang zu bringen. Lässt sich die Theorie irgendwie prüfen? Penrose ist zuversichtlich. Er hält es für möglich, Spuren vergangener Weltzeitalter in der kosmischen Hintergrundstrahlung zu finden. Seine Zeitzyklen sind in jedem Fall bedenkenswert. Denn die Theorie löst einige bisherige kosmologische Probleme auf interessante Weise.

Die meisten Forscher gehen inzwischen davon aus, dass sich unser All in den ersten Sekundenbruchteilen unvorstellbar rasch aufblähte. Diese „Inflation“ würde verständlich machen, warum der Weltraum in allen Richtungen ungefähr gleich aussieht.

Bisher ist allerdings völlig unklar, was diese beschleunigte Expansion unmittelbar nach dem Urknall angefacht haben könnte. Penrose kommt ohne Inflation aus. In seiner Theorie liegt die Phase der beschleunigten Expansion nämlich vor dem Urknall: am Ende des vorherigen Weltzeitalters.

Zyklen der Zeit.

Spektrum

Akademischer Verlag,

350 Seiten,

29 Euro 95

 Thomas de Padova

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