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Neue Computerprogramme können auffällige Symptome, die Daten einer Erbgutanalyse und viele andere Informationen nutzen, um Ärzten (und Patienten) Vorschläge zu machen, um welche der vielen seltenen Erkrankungen es sich handelt.

© Ada Health

Lebensrettende Diagnose: Wie künstliche Intelligenz seltene Krankheiten erkennt

Ein Patient kommt mit nie gesehenen Symptomen – aber welche von 8000 seltenen Erkrankungen ist es? Intelligente Software hilft Ärzten jetzt bei der Diagnose.

Antje Mater ist eine sehr große Frau, viel größer als ihre Kollegen in dem Steuerbüro, in dem sie arbeitet. Wenn man genau hinschaut, könnte man auf ihre schmalen Hände aufmerksam werden. Dass sie stark kurzsichtig ist, sieht man nicht, denn sie trägt Kontaktlinsen. Auch dass ihre Wirbelsäule verkrümmt ist, fällt nicht auf, wenn sie in selbstbewusster Pose vor einem steht.

Und vor allem würde niemand denken, dass sie mit ihren 41 Jahren schon zweimal an der Hauptschlagader operiert werden musste.

All diese Besonderheiten sind bei Antje Mater kein Zufall. Als Kind wurde bei ihr das seltene Marfan-Syndrom festgestellt. Die genetische Erkrankung führt dazu, dass Knochen, Muskeln und Bändern viel dehnbarer als bei anderen Menschen sind. Aber auch Blutgefäße und innere Organe sind häufig betroffen.

Zum Arzt gehen die Patienten jedoch aus anderen Gründen: weil ihr Rücken schmerzt, sie nicht mehr gut sehen oder weil sie erschöpft sind – Symptome, die bei vielen Menschen vorkommen.

Das macht es für Ärzte schwierig, das Syndrom zu diagnostizieren. Und Marfan ist bei weitem nicht die einzige schwer diagnostizierbare, weil seltene Krankheit. "Wir reden von 8000 seltenen Erkrankungen, und ich habe eine davon", sagt Mater. "Kein Arzt kann die alle kennen." Nun sollen digitale Systeme Medizinern helfen, solche seltenen Erkrankungen aufzuspüren.

Eine Suchmaschine, die dabei hilft, seltene Erkrankungen zu erkennen

Bislang sei es eher Glück, wenn Patienten wie Antje Mater beim richtigen Arzt landen, der die Symptome ihres Syndroms erkennt, sagt Sebastian Köhler, Bioinformatiker am Berliner Institut für Gesundheitsforschung. Um dem Glück auf die Sprünge zu helfen, hat er zusammen mit Kollegen die "Human Phenotype Ontology", kurz HPO, aufgebaut.

Die HPO ist eine standardisierte Sprache. Mit ihr werden Symptome und Krankheitsmerkmale so präzise und eindeutig beschrieben, dass Ärzte und Wissenschaftler auf der ganzen Welt das gleiche Vokabular verwenden, insbesondere wenn sie in Datenbanken danach suchen.

Dafür haben Köhler und sein Team den "Phenomizer" entwickelt, eine Suchmaschine, die auf den HPO-Begriffen basiert und die dabei hilft, seltene Erkrankungen zu diagnostizieren. Fallen bei einem Kind etwa eine verformte Wirbelsäule, eine Sehschwäche und lange Finger auf und speist man die Suchmaschine mit den standardisierten Fachbegriffen dafür, schlägt sie über 200 Seiten mit potenziellen Diagnosen vor. An vierter Stelle erscheint das Marfan-Syndrom.

Odyssee bis zur Diagnose

Wie revolutionär solch ein Diagnosewerkzeug sein kann und wie vielen Menschen es helfen könnte, wird gerade an den seltenen Erkrankungen deutlich. Man schätzt, dass in Deutschland vier Millionen Menschen eine seltene Erkrankung haben – also eine, die höchstens eine von 2000 Personen betrifft.

Manche davon sind so rar, dass es bundesweit nur eine Handvoll Patienten gibt. Viele der Betroffenen wissen nicht, was ihnen fehlt, und ziehen mit ihren Beschwerden von Arzt zu Arzt.

Antje Mater kennt unzählige solcher Geschichten. Sie organisiert eine Selbsthilfegruppe für Menschen mit Marfan-Syndrom. Da erzählen dann Erwachsene davon, dass sie früher immer wegen ihres Aussehens gehänselt wurden, oder weil sie zu schwach oder kurzsichtig waren, um am Sportunterricht teilzunehmen. "Jeder hat da seine eigene Geschichte." Was aber fast alle vereine, sei die Odyssee bis zur Diagnose. Und die hat viel zu oft kein Happy End.

Fast wäre die OP zu spät gekommen

Zwar hat Antje Mater ihre Diagnose schon relativ früh bekommen – trotzdem wäre es fast zu spät gewesen. Nur weil ihr Vater, der auch an dem genetischen Defekt litt, mit 31 Jahren an den Folgen starb, fiel den Ärzten auf, dass die damals Siebenjährige viele seiner Krankheitsmerkmale aufwies.

Sie untersuchten sie fortan und stellten rechtzeitig eine für das Marfan-Syndrom typische, lebensgefährliche Aussackung der Hauptschlagader, der Aorta, fest. Die Mediziner operierten Antje Mater, bevor das Gefäß wie bei ihrem Vater riss.

Bei 95 Prozent der Marfan-Patienten komme es irgendwann im Leben zu einer solchen Aussackung der Hauptschlagader, sagt Petra Gehle, Leiterin des Berliner Marfan-Zentrums. Je früher also Marfan diagnostiziert wird, umso höher die Überlebenschancen der Patienten.

Wir vernachlässigen einen großen Teil der Bevölkerung

Doch um solche lebensrettenden Maßnahmen zu ermöglichen, wie sie bei vielen seltenen Erkrankungen möglich sind, muss zuallererst eines vorliegen: eine Diagnose. Digitale Unterstützung wie den "Phenomizer" gibt es zwar inzwischen, doch kaum ein Arzt kennt sie. Und falls doch, "müssen wir sie oft erst überzeugen, dass wir ihnen nicht den Job wegnehmen, sondern ihnen nur eine Software als Hilfestellung an die Hand geben wollen", sagt Köhler.

Martin Mensah gehört zu den Ärzten, die solche Hilfestellungen bereitwillig annehmen. Seine Arbeit am Institut für Humangenetik der Charité besteht darin, bei seinen Patienten nach seltenen genetischen Erkrankungen zu suchen. Die würden in anderen Disziplinen nicht immer richtig erkannt, sagt Mensah. "Damit vernachlässigen wir einen großen Teil der Bevölkerung."

Das liege aber nicht an den einzelnen Ärzten, sondern am System: "Wir betreiben eine Medizin, die nur auf häufige Erkrankungen ausgelegt ist." Obwohl nicht viele Menschen von einer bestimmten seltenen Erkrankung betroffen sind, schätzt man, dass insgesamt fünf Prozent der Weltbevölkerung an den vielen verschiedenen Syndromen leiden – oft ohne es zu wissen oder je eine Diagnose zu bekommen. "Das Paradox der seltenen Erkrankungen ist, dass sie häufig sind", sagt Mensah.

Ein System, so gut wie ein erfahrener Humangenetiker

Im Juni dieses Jahres stellte Mensah zusammen mit Forscherkollegen im Fachmagazin "Genetics in Medicine" das "PEDIA"-System vor. Pedia arbeitet ähnlich wie ein Humangenetiker. Es durchsucht das Erbgut des Patienten nach Genmutationen, berücksichtigt auffällige Krankheitssymptome und markante Abweichungen von üblichen Gesichtsproportionen. Daraus kann es mit einer 98-prozentigen Trefferquote berechnen, um welche Krankheit es sich handelt.

Dafür musste Pedia zunächst trainiert werden. Daten von 679 Patienten mit 105 verschiedenen Erkrankungen, die durch Veränderungen an einem einzigen Gen ausgelöst werden, flossen in das System ein. Zudem lernte ein neuronales Netzwerk anhand von 30.000 Portraitfotos, wie sich genetische Erkrankungen anhand bestimmter Gesichtsmerkmale zeigen können. Auch Patienten mit Marfan-Syndrom stellten ihre Daten für das Programm zur Verfügung.

Zurzeit sei das Computersystem etwa so gut wie erfahrene Humangenetiker, sagt Mensah. Das könne sich aber bald ändern. Er ist zuversichtlich, dass in ein paar Jahren ein Kinderarzt ein Foto von seinem Patienten macht, die Symptome beschreibt und der Computer ihm dann sagt, welche Gene er untersuchen soll. Eventuell könnte der Prozess auch ganz automatisiert im Hintergrund ablaufen, ohne dass der Arzt aktiv eine Suchmaschine betätigen muss.

Hausärzte bräuchten oft nur einen Hinweis

Auch das in Berlin gegründete Start-up "Ada Health" hat ein System entwickelt, um Mediziner beim Erkennen seltener Erkrankungen zu unterstützen. Ada stelle aber keine Diagnose, sagt Martin Hirsch, wissenschaftlicher Leiter des Unternehmens. "Ada ist ein Diagnoseunterstützungssystem."

Es gibt schon eine App für Patienten und einen Prototypen für Mediziner. Auch Hausärzte habe man im Fokus, sagt Hirsch. Sie bräuchten bei komplexen und seltenen Fällen "häufig nur einen Hinweis, um auf die richtige Fährte zu kommen". Seltene Erkrankungen sollen dabei zu einem Schwerpunkt werden, sagt Hirsch. "Zurzeit lassen sich mit der Software mehrere Hundert seltene Erkrankungen finden." In Zukunft sollen es mehrere Tausend sein.

Patienten, die durch eine App auf das Marfan-Syndrom aufmerksam geworden sind, habe Petra Gehle vom Marfan-Zentrum bisher noch nicht in ihrer Sprechstunde gesehen. Sie finde die Möglichkeit einer solchen Software interessant, "aber vor allem als Hilfestellung". Zur definitiven Diagnosestellung seien klinische und genetische Untersuchungen erforderlich.

Antje Mater sieht in der Digitalisierung eine riesige Chance, ist aber auch skeptisch. "Wer maßt sich denn an, eine Diagnose zu stellen: Algorithmen, die Daten sammeln?" Wenn es jedoch darum gehe, Wissen zu bündeln und auszutauschen, sei sie dabei.

Das müsse aber auch richtig angewendet werden. "Eine App, die man sich mal eben aufs Handy lädt, um sich damit zu amüsieren, welche seltene Erkrankung man haben könnte, damit könnte ich schwer umgehen. Das fände ich respektlos."

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