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Über 500 verschiedene Zelltypen konnten die Forschenden durch die hochauflösende Kartierung des Darms identifizieren.

© Stanford Medicine/Snyder lab/Greenleaf lab/Nolan lab

Koordinatenplan für den Körper: So leben menschliche Zellen in Nachbarschaften

Eine Reihe neuer Atlanten gibt Einblicke in die zelluläre Architektur von Plazenta, Nieren und Darm. Langfristiges Ziel der Wissenschaftler ist eine umfassende Kartierung der Zellen im menschlichen Körper.

Von Alice Lanzke, dpa

Beim Menschen bestimmen die Organisation der Zellen und die Wechselwirkung zwischen ihnen die Funktion von Organen und Geweben. Ein internationales Konsortium von Wissenschaftlern hat nun in verschiedenen Studien zwei- und dreidimensionale Ansichten vorgestellt, welche darstellen, wie Zelltypen in verschiedenen menschlichen Geweben und Organen angeordnet sind und wie sie miteinander interagieren. Dabei konzentriert sich das erste Paket der im Fachjournal „Nature“ veröffentlichten Studien auf die Kartierung der Zellen im Darm, der Niere und der Plazenta.

Die im Rahmen des Projekts „Human BioMolecular Atlas Program“ (HuBMAP) erstellten Zellkarten sollen dabei helfen, die Funktionsweise von Zellen besser zu verstehen sowie Antworten auf die Frage geben, wie sich die Beziehungen zwischen Zellen auf die Gesundheit eines Menschen auswirken können. Daher sprechen die beteiligten Forscher auch von räumlichen Referenzkarten oder Referenzatlanten.

Diese Karten werden es uns ermöglichen, verschiedene Organe zu vergleichen und zu analysieren, was bei einer Krankheit schiefläuft.

Katy Börner, Informatikerin an der Indiana University

„Dies ist die erste koordinierte Reihe von Arbeiten, die eine Reihe von hochauflösenden Einzelzellkarten menschlicher Organe erstellen, einschließlich der ausgeführten Funktionen“, erläutert Michael Snyder, leitender Forscher eines der HuBMAP-Kartierungsprojekte, in einer Mitteilung. „Ähnlich, wie man beim Bau eines funktionierenden Motors zuerst die Teile zu funktionierenden Komponenten zusammensetzen muss und nicht einfach nur Einzelteile zusammenwerfen darf, hat die Arbeit unserer Forscher aufgedeckt, wie einzelne Zellen im Körper in sogenannten ,zellulären Nachbarschaften’ leben und zusammenarbeiten.“

Schlüsselaspekte der Entwicklungsbiologie

Die durch diese Entdeckungen gewonnenen Erkenntnisse seien der erste Schritt zur Schaffung des Rahmens für einen aussagekräftigen dreidimensionalen, funktionellen Atlas der Zellen im menschlichen Körper.

Eine der Studien konzentriert sich auf die Kartierung der menschlichen Plazenta während der ersten Hälfte der Schwangerschaft. Dafür analysierten die Autoren um Shirley Greenbaum und Michael Angelo von der Stanford University etwa 500.000 Zellen und 588 Arterien aus 66 Proben der Schnittstelle zwischen Plazenta und Gebärmutter, wo die mütterlichen Arterien umgebaut werden, um den Fötus mit Blut zu versorgen.

Indem bestimmte Zellen mit verschiedenen Farben markiert werden, erhalten die Froschenden wertvolle Einblicke in die komplexen Interaktionen und Strukturen des menschlichen Darms.

© Stanford Medicine/Snyder lab/Greenleaf lab/Nolan lab

Die derart entstandene Karte beschreibt mehrere Schlüsselaspekte der Entwicklungsbiologie während der ersten Hälfte der Schwangerschaft, darunter Interaktionen zwischen Plazenta- und Immunzellen. Letztere geben Aufschluss darüber, wie mütterliche Immunzellen die Koexistenz der verschiedenen mütterlichen und fötalen Zellen unterstützen.

In einer weiteren Arbeit analysierten Wissenschaftler um Sanjay Jain von der Washington University School of Medicine Zellen in 45 gesunden und 48 kranken Nieren und erstellten eine 2D- und 3D-Karte der Nierenzellorganisation. Dabei identifizierten sie 51 Zelltypen der gesunden Niere, darunter einige bislang unbekannte, und 28 verwandte Zelltypen mit Merkmalen, die mit Verletzungen oder Genesung in Zusammenhang stehen.

Mithilfe der Kartierung Krankheiten verstehen

In einer Mitteilung erläutert Jain: „Wir haben uns angesehen, wie Nierenzellen organisiert sind, welche molekulare Identität sie haben und wie sie sich von einem gesunden zu einem kranken Zustand verändern.“ Mit diesem Wissen könne man beginnen, über Therapien nachzudenken, die das Fortschreiten von Krankheiten verhindern oder die Genesung nach einer Verletzung fördern könnten.

Für eine dritte Studie untersuchte ein Team um Wissenschaftler der Stanford School of Medicine Proben von acht Abschnitten des Darms, die von neun Organspendern stammten. Die Analyse der verschiedenen Regionen ergab dabei deutliche Unterschiede in den jeweiligen Zellzusammensetzungen. Dabei entdeckten die Autoren eine neue Unterart von Epithelzellen.

Jede Farbe entspricht einem bestimmten Molekül und gibt Aufschluss über das Vorhandensein und die Verteilung verschiedener Zelltypen oder Strukturen.

© Stanford Medicine/Snyder lab/Greenleaf lab/Nolan lab

Vor allem aber stellten sie fest, dass sich die verschiedenen Zelltypen in sogenannten „Nachbarschaften“ mit spezifischen Funktionen zusammensetzen. Jene Nachbarschaften konnten die Forscher bis auf die Ebene der einzelnen Zelle abbilden. Die derart entwickelten Karten enthüllen demnach klinische Zusammenhänge: So wiesen etwa Gewebespender mit einem höheren Body-Mass-Index (BMI) eine stark erhöhte Zahl einer bestimmten Art von Immunzellen auf, die mit Entzündungen in Verbindung gebracht werden.

Schon vor einem Jahr hatte ein anderes internationales Projekt erste Ergebnisse eines Atlasses der menschlichen Zellen („Atlas of Human Cells“) im Fachblatt „Science“ vorgestellt. Jene Kartierung konzentriert sich auf die umfassende Katalogisierung menschlicher Zellen aus unterschiedlichen Organ- und Gewebeproben und identifizierte bislang über 500 verschiedene Zelltypen.

Die nun veröffentlichten HuBMAP-Karten machen deutlich, wie unterschiedliche Zelltypen in Geweben und Organen angeordnet sind und interagieren. „Wir haben uns auf räumliche Karten und die räumliche Struktur von Geweben konzentriert“, erläutert Michael Angelo in einem Pressegespräch zur Veröffentlichung. Informatikerin Katy Börner ergänzt, dass Schnittstellen zwischen den verschiedenen Projekten geschaffen werden sollen, die einen Datenaustausch ermöglichen.

Börner beschreibt auch die HuBMAP-Vision: „Was wir letztendlich wollen, ist ein gemeinsamer Koordinatenplan, wie ein Breitengrad-Längengrad-System mit einer Art Adresse für jede gesunde Zelle des menschlichen Körpers.“ Genetiker Michael Snyder fügt hinzu: „Es ist schwer, Krankheiten zu verstehen, wenn man nicht weiß, wie der gesunde Zustand aussieht. Diese Karten werden es uns ermöglichen, verschiedene Organe zu vergleichen und zu analysieren, was bei einer Krankheit schiefläuft.“

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