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Seine Spuren im Sand. Wer in der Wüste die Orientierung verliert, bringt sich damit unter Umständen in Lebensgefahr.

© AFP

Kein Ziel vor Augen: Moment, hier war ich doch schon

Warum laufen wir im Kreis, wenn wir keine Orientierung haben? Forscher suchen den Grund fürs Herumirren.

„Es gab außer kurzem Gras nichts zu sehen, alles sah gleich aus; weit entfernt sahen wir eine gerade Linie – den Horizont. Am späten Nachmittag, als wir bereits sehr müde waren, gelangten wir zu unserer großen Überraschung an den Ort zurück, wo wir in der vergangenen Nacht kampiert hatten und von wo aus wir am Morgen losgegangen waren. Wir waren nach links und wohl den ganzen Tag lang im Kreis gelaufen.“ Wenn dichter Nebel aufkommt oder wenn man eine Sand- oder Schneewüste durchquert, verliert man leicht die Orientierung. Dann ist die Gefahr groß, dann es einem so ergeht wie dem großen Indianer-Maler George Catlin im 19. Jahrhundert in der amerikanischen Prärie: Man läuft im Kreis. Doch weil sich auch das Orientierungssystem stetig in dieselbe Richtung verschiebt, hat man die ganze Zeit über das Gefühl, schnurgeradeaus zu gehen. Wenn man dann in Panik gerät, läuft man immer schneller, die Kreise werden immer enger, und am Ende landet man wieder dort, von wo aus man aufgebrochen ist.

Für dieses merkwürdige Phänomen werden oft körperliche Asymmetrien wie unterschiedlich lange oder kräftige Beine und Arme oder auch die Dominanz einer Gehirnhälfte verantwortlich gemacht. Demnach würde jemand mit einem schwächeren linken Bein ständig unmerklich nach links, jemand mit einem schwächeren rechten Bein ständig unmerklich nach rechts abweichen. Diese Erklärung kann allerdings nicht stimmen. Das ergibt sich aus Experimenten, die der niederländische Psychologe Jan Souman und seine Mitarbeiter vom Max-PlanckInstitut für Biologische Kybernetik in Tübingen anstellten und im Fachjournal „Current Biology“ veröffentlichten.

In einem Experiment sollten die Versuchspersonen mit verbundenen Augen eine kurze Strecke geradeaus gehen. Überraschenderweise liefen alle Testpersonen alsbald im Kreis. Dabei spielte die Beinlänge nicht die geringste Rolle, denn bei ein und denselben Testpersonen war manchmal ein Rechtsdrall, manchmal ein Linksdrall zu beobachten. Außerdem veränderte sich ihre Laufrichtung auch dann nicht, wenn man ihnen Schuhe mit unterschiedlich hohen Sohlen verpasste. Die Wissenschaftler schließen daraus, dass das Gehirn anatomische Unterschiede von vornherein berücksichtigt, wenn es den Kurs zu berechnen hat.

Des weiteren haben die Forscher mithilfe von GPS-Empfängern die Laufwege von Versuchspersonen in natürlicher Umgebung verfolgt. Eine Region in der tunesischen Sahara und ein Wald im Rheintal dienten dabei als Versuchsgelände. In diesem Experiment sollten die Teilnehmer versuchen, sich mehrere Stunden möglichst schnurgerade vorwärts zu bewegen. Das eine Mal tagsüber, das andere Mal mitten in der Nacht.

Das verblüffende Ergebnis: Die Versuchspersonen schafften es nur dann, in einigermaßen geraden Bahnen zu laufen, wenn sie die Sonne oder den Mond zur Kursbestimmung verwenden konnten. Ohne diese Orientierungshilfen bewegten sie sich in chaotischen Kurven vorwärts und trafen immer wieder auf ihre eigenen Spuren. „Es ist tatsächlich wie im Film“, sagt Souman. „Einige unserer Versuchsteilnehmer haben mehrmals ihren eigenen Weg gekreuzt, ohne es zu merken. Sobald Bewölkung am Himmel aufzog und die Sonne verdeckte, beschrieben sie mitunter scharfe Kurven und wichen vom geraden Weg ab.“ Am Ende wurde den Versuchsteilnehmern abverlangt, mit verbundenen Augen auf freiem Feld geradeaus zu laufen. Doch keinem gelang es, mehr als 20 Meter zurückzulegen, ohne vom Kurs abzukommen. Schließlich liefen alle im Kreis, und es zeigte sich, dass sie sich im Durchschnitt nicht mehr als 100 Meter von ihrem Ausgangspunkt entfernt hatten.

Jan Souman vermutet, dass es für das Phänomen des Im-Kreis-Laufens eine simple Erklärung gibt: Die Richtungsinformationen, die dem Gehirn durch die Sinnesorgane geliefert werden, sind häufig ungenau. Werden diese kleinen Ungenauigkeiten nicht frühzeitig korrigiert, verwandeln sie sich in große, Navigationsfehler sind zwangsläufige Folge. „Wir können den Sinneseindrücken aus Augen, Ohren und Gleichgewichtsorganen nicht bedingungslos vertrauen“, sagt Souman. „Vielmehr nutzen wir zusätzliche äußere Orientierungshilfen wie beispielsweise Berge, Sonne oder Gebäude, mit denen unsere Wahrnehmung abgeglichen und gegebenenfalls korrigiert wird.“

Es gibt noch eine andere Theorie. Sie beruft sich auf einen Umstand, den die Angehörigen von Jäger-Sammler-Kulturen noch gut kennen. Nicht nur Menschen, auch Pferde, Hirsche, Elche und viele andere Tiere haben die Angewohnheit, sich weniger geradlinig als in leichten Kurven vorwärts zu bewegen. Und sie bewegen sich im Kreis, wenn sie die Orientierung verloren haben oder ein Raubtier sie verfolgt.

Nach Auffassung des schwedisch-amerikanischen Navigationsexperten Erik Jonsson ist das Im-Kreis-Laufen ein Mechanismus, den die Evolution irgendwann hervorgebracht hat. Er gewährleistet, dass Säugetiere, die etwa im Nebel vom Weg abgekommen sind oder die Hals über Kopf vor einem Angreifer fliehen müssen, immer wieder dorthin zurückkehren, wo sie sich am besten auskennen und sich am sichersten fühlen können: in ihrem eigenen Territorium.

Unter normalen Umständen, erklärt Jonsson, laufen weder Menschen noch Tiere konstant geradeaus, sondern erlauben sich immer wieder Abweichungen vom direkten Kurs. Diese Abweichungen werden jedoch von ihrem inneren Navigator unablässig registriert und korrigiert. Der innere Navigator ist allerdings schnell überfordert, wenn er in der Außenwelt nicht die markanten Merkmale findet, die er für die Kursbestimmung braucht. Und er arbeitet schlecht oder setzt völlig aus, wenn er unter Erschöpfung, Stress oder Panikattacken zu leiden hat. In solchen Krisensituationen kann er die Kursabweichungen nicht mehr korrigieren und das Tier oder der Mensch läuft im Kreis.

Jan Souman steht dieser Theorie allerdings skeptisch gegenüber. „Ich glaube nicht wirklich an die evolutionäre Hypothese“, sagt er. „Der Hauptgrund dafür ist, dass die Versuchspersonen in unserem Waldexperiment gar nicht ahnten, dass sie wieder auf dieselbe Stelle zurückkamen. Und auch dass sie nicht ständig im Kreis liefen und sich deshalb schon von dem Ausgangspunkt entfernt haben. Wie wir zeigen, reicht die Information der Sonnenposition oft, um die grobe Orientierung zu halten, und ich glaube, dass das auch in der Vergangenheit zum Überleben genügte.“

Aufschlussreiche Untersuchungen über das menschliche Orientierungsvermögen stellten kürzlich die Neurowissenschaftlerin Emma Brestaven und ihre Kollegen Etienne Guillaud und Jean-René Cazalets von der Universität Bordeaux an. Wie sie im Fachblatt „Plos One“ berichten, fanden die Experimente nicht im Freien statt, sondern in einer 80 Meter mal 150 Meter großen Ausstellungshalle. In dieser bemühten sich 15 Versuchspersonen, denen die Augen verbunden waren und die Ohrenschützer trugen, möglichst weit schnurgeradeaus zu laufen. Das gelang allerdings nur bei elf Prozent der Läufe einigermaßen, bei 50 Prozent war ein Linksdrall und bei 39 Prozent ein Rechtsdrall zu beobachten. Um herauszufinden, ob diese Kursabweichungen auf die Dominanz einer Hand, eines Fußes, eines Auges oder auf die Beinlänge zurückgeführt werden können, wandten die Psychologen Elektromyografie an. Durch die Messung der Aktivitäten etlicher Muskeln in den Beinen und im Rumpfbereich stellten sie fest, dass biomechanische und anatomische Unterschiede wenig erklären.

Außerdem trat zutage, dass der Grad der Kursabweichungen bei ein und denselben Versuchspersonen von Lauf zu Lauf erheblich variieren kann, dass die Versuchspersonen nicht imstande sind, aus Fehlern zu lernen, und dass es Männern genauso schwer fällt wie Frauen, sich gradlinig vorwärts zu bewegen.

Emma Bestaven und ihr Team wandten schließlich Posturografie an, um zu klären, ob die Kursabweichungen etwas mit dem Gleichgewichtssinn zu tun haben könnten. Mithilfe einer Messplattform wurden die Versuchspersonen daraufhin untersucht, wie stark sie jeden Fuß beim entspannten Stehen belasteten.

Die Wissenschaftler aus Bordeaux sind am Ende auf einen aussagekräftigen statistischen Zusammenhang gestoßen: Über 80 Prozent der Versuchspersonen, die bei ihren Läufen zu einem Linksdrall geneigt hatten, übten etwas mehr Druck mit ihrem linken Fuß aus, und 70 Prozent derjenigen mit einem Rechtsdrall belasteten ihren rechten Fuß etwas stärker. Emma Bestaven schließt daraus, dass Menschen auch deswegen im Kreis laufen, weil ihr Gleichgewichtssinn leicht ungenau arbeitet. Aber auch diese Hypothese muss noch gründlicher überprüft werden.

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