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Chancengerechtigkeit ist an deutschen Schulen laut einer Studie Mangelware.

© dapd

Bildung in Deutschland: Kaum Chancengerechtigkeit in deutschen Schulen

Ländervergleich: Auch besonders durchlässige Schulsysteme können ein hohes Leistungsniveau haben. Die Bundesländer haben allerdings viel aufzuholen. Sachsen schafft es am besten, Berlin liegt im Vergleich hinten.

Kann ein Schulsystem sehr durchlässig sein und dennoch hervorragende Schüler hervorbringen? Nein, lautet eine gängige Position konservativer Bildungspolitiker. Doch!, entgegnet nun eine Studie der Bertelsmannstiftung. Ein Vergleich der Schulsysteme der 16 Bundesländer hat ergeben, dass Leistungsstärke und Gerechtigkeit auch hierzulande kein Widerspruch sein müssen. Sachsen macht es vor: Dort ist das Schulsystem recht durchlässig, die Chancen, dass Kinder aus unteren sozialen Schichten aufs Gymnasium gehen, sind relativ gut. Gleichzeitig gehören in Sachsen sowohl die leistungsstärksten als auch die leistungsschwächsten Schülerinnen und Schüler zu den Besten ihrer Vergleichsgruppe. Der Unterschied zwischen den Bundesländern ist allerdings enorm. Auch Berlin schneidet in der Analyse eher schlecht ab.

Der Erziehungswissenschaftler Wilfried Bos, Leiter des Instituts für Schulentwicklungsforschung (IFS) an der TU Dortmund, und seine Kollegen haben im Auftrag der Bertelsmannstiftung seit Juni 2010 untersucht, wie die Schulsysteme der Bundesländer mit Vielfalt umgehen. Die Ergebnisse sind im „Chancenspiegel“ zusammengefasst. Ausgangspunkt war das im Pisa-Gewinnerland Kanada geltende Leitbild „equity and excellence“ – Fairness und Exzellenz. „Das muss auch in Deutschland das Ziel sein“, sagt Jörg Dräger, Vorstandsmitglied der Bertelsmannstiftung. Basis für die Analyse bildeten die Pisa-Daten, zuletzt 2009 erhoben, die Ergebnisse der Internationalen Grundschul-Leseuntersuchung (Iglu) von 2006 sowie aktuelle Zahlen aus der amtlichen Statistik.

Wilfried Bos nennt „Chancengerechtigkeit“ eine „Minimalforderung“ an ein Schulsystem: „Schüler dürfen aufgrund ihrer sozialen und natürlichen Merkmale keine zusätzlichen Nachteile erfahren.“ Um den Begriff „Chancengerechtigkeit“ wissenschaftlich fassen zu können, wurden vier Dimensionen untersucht: Integrationskraft, Durchlässigkeit, Kompetenzförderung und Zertifikatsvergabe, das heißt Chancen auf Schulabschlüsse. Sie sollen Auskunft darüber geben, wie integrativ Schulsysteme sind, ob sie soziale Nachteile wettmachen, Klassenwiederholungen und Schulabstiege vermeiden und wie erfolgreich Schulabgänger und Hauptschulabsolventen dabei sind, einen Ausbildungsplatz zu finden.

Berlin ist weit weg von der Minimalforderung. Hier heißt das Gesamturteil: mittelmäßig gerecht und leistungsschwach. In den Kategorien Integrationskraft und Durchlässigkeit ist die Hauptstadt immerhin Mittelmaß, in Kompetenzförderung und Zertifikatsvergabe gehört Berlin aber zu den schlechtesten vier Bundesländern. In den Bereichen Lesekompetenz und Erfolg von Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern schneidet Berlin durchgehend schlecht ab. Dafür ist die Chance eines Kindes aus oberen Sozialschichten, das Gymnasium zu besuchen, nur 1,7-mal höher als die eines Kindes aus unteren Sozialschichten – und damit deutlich besser als im Bundesdurchschnitt (4,5). Allerdings ist es in Berlin knapp 14-mal so wahrscheinlich, in eine schwächere Schulform abzusteigen, als in eine bessere aufzusteigen.

In Bayern hingegen stehen einem Aufwärtswechsler nur 2,2 Abwärtswechsel gegenüber. „Das liegt daran, dass Bayern bei der Gymnasialzulassung siebt, Berlin erst danach aussortiert“, sagt Dräger, der bis 2008 Wissenschaftssenator (parteilos) in Hamburg war. Die Chance eines Kindes aus oberen Sozialschichten, das Gymnasium zu besuchen, sei in Bayern deswegen 6,5 mal höher als die eines Kindes aus unteren Sozialschichten. „Insgesamt sind die deutschen Schulsysteme nach oben zu wenig durchlässig.“

Die Daten wurden bewusst unabhängig von der Sozialstruktur der Länder ausgewertet, als reine Bestandsaufnahme. „Alles andere beseitigt die Transparenz“, sagt Dräger. Auf ein Ranking der Bundesländer haben die Wissenschaftler verzichtet. Es gehe um den Vergleich der „Extremgruppen“, also der oberen und unteren 25 Prozent. Und hier ist der Befund: Kein Bundesland ist überall spitze. „Niemand kann sich zurücklehnen“, sagt Bos. „In keinem Bundesland kann von einem hinreichend gerechten Schulsystem ausgegangen werden.“ Im sonst so vorbildlichen Sachsen beispielsweise verlassen 11,2 Prozent der Jugendlichen die Schule ohne Abschluss, deutlich mehr als im Bundesdurchschnitt (sieben Prozent) – was auch für die Nachbarländer gilt. „Der Osten entlässt zu viele Schüler in die Perspektivlosigkeit“, sagt Bos. „Bis zu 14 Prozent der Jugendlichen verlassen die Schule ohne Abschluss.“

Der Chancenspiegel will zudem mehr Mut zu Ländervergleichen anregen, die von der Kultusministerkonferenz eher unerwünscht sind. „Die Ergebnisse können als Argumente für einen Wettbewerbsföderalismus verwendet werden“, sagt Bos. In den kommenden Jahren sollen in Folgestudien die Fortschritte ermittelt werden. In Bremen, das mal wieder vergleichsweise schlecht abschneidet, erläutert Bos, gebe es beispielsweise eine Dynamik, deren Ergebnisse man erst in einigen Jahren sehen werde.

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