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Eine weißhaarige Frau sitzt an einem Tisch und stützt den Kopf mit ihren Händen.

© picture alliance / Monkey Business 2/Shotshop

Hilfe für depressive Pflegebedürftige: Die Last des Lebens erleichtern

Lebensmüdigkeit und Suizidgedanken werden bei Pflegebedürftigen oft bagatellisiert. Dabei könnte man hinhören – und handeln.

In Ferdinand von Schirachs viel diskutiertem Buch „Gott“, aus dem auch ein Fernsehfilm und ein Theaterstück entstanden, steht ein gesunder, selbstständig lebender Witwer Anfang 70 im Mittelpunkt, der aus dem Leben scheiden und dafür ärztliche Hilfe beanspruchen möchte.

Das Setting ermöglicht es, verschiedene Positionen zum ärztlich assistierten Suizid darzustellen, der durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020 erneut in den Fokus geriet. Zugleich wirkt der fiktive Fall recht konstruiert.

„Ich will nicht mehr“ – das sagen in der Realität weit häufiger hochbetagte, von mehreren Erkrankungen, von Schmerzen und Einschränkungen geplagte Pflegebedürftige. Den Angehörigen ist dann oft klar, dass Sätze wie „Ich möchte einfach einschlafen und nicht mehr aufwachen“ auch einen Beziehungsaspekt beinhalten: Der Pflegebedürftige möchte anderen nicht zur Last fallen – und erwartet vielleicht Widerspruch.

„Die Lebensmüdigkeit beinhaltet auch einen Überdruss am Leben, sie ist Ausdruck einer inneren Krise“, warnt der Gerontologe Simon Eggert von der Stiftung Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP). In einigen Fällen kann diese mit dem Vorhaben verbunden sein. den eigenen Tod herbeizuführen.

Die Leiden Hochbetagter ernst nehmen

„Das Thema Suizidalität im Alter und bei Pflegebedürftigkeit wird oft noch zu wenig beachtet“, sagt Eggert. Möglicherweise schwinge dabei eine gewisse Altersdiskriminierung mit. Als sei es „weniger dringlich“, hochaltrige Menschen beim Thema Lebensmüdigkeit und Suizid ernst zu nehmen, da ihnen meistens ohnehin nur noch eine vergleichsweise kürzere Zeitspanne Leben bleibt.

Von den 850.000 Menschen, die jährlich in Deutschland sterben, sind die allermeisten im höheren Lebensalter. Während der Pandemie wurde vor allem das Sterben alter mehrfach kranker Patienten an und mit Covid-19 öffentlich wahrgenommen. In jedem Jahr sind unter den Verstorbenen aber auch 9000 bis 10.000 Menschen, die sich das Leben genommen haben. Und unter ihnen ist fast ein Drittel über 70.

Unter den Frauen, die sich das Leben nehmen, ist die Hälfte über 60, nimmt man Männer und Frauen zusammen, liegt das Durchschnittsalter bei knapp 59. Und es ist in den letzten Jahrzehnten gestiegen. „Der Suizid trägt die Handschrift des Alters", sagt Reinhard Lindner, Psychiater und Suizidforscher an der Uni Kassel.

Nicht als leidiges Mantra ignorieren

Er trägt jedoch zugleich die Handschrift des seelischen Leidens: Auch unter den Älteren, die sich das Leben nehmen, litten die meisten zuvor an einer psychischen Erkrankung, meist an einer schweren Depression – ganz wie die Jüngeren. „Dagegen kann man prinzipiell auch im höheren Lebensalter etwas unternehmen“, betont Eggert.

Die Stiftung ZQP hat nun in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft „Alte Menschen“ des Nationalen Suizidpräventionsprogramms (NaSPro) einen übersichtlich gestalteten Kurzratgeber herausgegeben, der vor allem pflegenden Angehörigen erste Orientierung bieten soll, wie sie Lebensmüdigkeit und Suizidgedanken erkennen und im Alltag damit umgehen können (kostenlos herunterzuladen oder zu bestellen unter: www.zqp.de).

Lebensmüdigkeit und Suizidalität sind prinzipiell durch schwankende Gefühlszustände und eine ambivalente Haltung gekennzeichnet – aber auch durch Leidensdruck. „Diesen Leidensdruck sollten pflegende Angehörige ernst nehmen und Äußerungen wie ‚Ich will lieber sterben’ nicht als leidiges Mantra ignorieren“, sagt Eggert. „Solche Sätze weisen meist auf ein großes Problem hin.“

Es sei also bedeutsam, zuzuhören und nachzufragen, auch wenn es um die körperliche Befindlichkeit geht. Denn Lebensmüdigkeit Pflegebedürftiger kann mit Schmerzen zusammenhängen, die zermürbend sind. Eine gute Schmerzbehandlung könne vielfach helfen, Beschwerden erheblich zu lindern und Lebensmut zurückzugewinnen, erklärt Eggert.

Eine Pflegerin begleitet eine weißhaarige Frau, die im Pflegeheim am Rollator geht. An der Wand ein Panoramabild von einem Wasserfall.
Auswege zeigen. Körperliche und seelische Leiden sollten auch im hohen Alter konsequent behandelt werden.

© Marijan Murat/dpa

Um Patienten mit Depressionen neben Medikamenten auch professionelle therapeutische Gespräche anbieten zu können, ist eine „aufsuchende“ Psychotherapie im Pflegeheim oder in der Wohnung denkbar. Mit seinem Kollegen Martin Sandner hat Reinhard Lindner erste Erfahrungen mit Patient:innen im Alter zwischen 77 und 90 Jahren veröffentlicht, die nicht mehr in der Lage waren, in die Praxis eines Psychotherapeuten zu kommen.

Das Thema Sterben und Tod durchzog alle diese Behandlungen.

„Depressive und resignative Zustände am Lebensende fördern oft den Wunsch nach einem beschleunigten Tod“, schreibt Lindner in einem Überblicks-Beitrag für das „Deutsche Ärzteblatt“. Selbst in der Endphase des Lebens könne eine therapeutische Beziehung aber verzweifelten Patienten helfen. „Der Druck zum sofortigen Handeln lässt oft in der Gegenwart eines tröstenden, unterstützenden Zuhörers nach, der in der Lage ist, einen Patienten mit der Beschreibung vergangener Erfahrungen und aktueller Ängste zugewandt zu konfrontieren.“

Lebenssatt oder lebensmüde? Wichtig ist eine differenzierte Wahrnehmung

„Es sollte also unbedingt im Mittelpunkt stehen, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, den Menschen bei in ihren Belastungen und Ängsten beizustehen und wirksame Unterstützung zu bieten“, betont Eggert. Dass die Diskussion um den assistierten Suizid durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in dem der Aspekt der Autonomie und Freiverantwortlichkeit betont wird, nun intensiv stattfindet, begrüßt er: Insgesamt könne die Debatte der Entstigmatisierung des Themas dienen. „Aber gleichzeitig besteht die Dringlichkeit, Möglichkeiten der Suizidprävention herauszustellen.“

Dazu gehört nicht zuletzt eine differenzierte Wahrnehmung. Suizidprävention und Behandlung von Lebensmüdigkeit und Suizidalität seien „nicht gleichzusetzen mit einem imperativen Helferwunsch“, dem jede Äußerung eines Wunsches zu sterben gleich als „als behandlungsbedürftiges Krankheitssymptom“ erscheine, heißt es in einer ausführlicheren Broschüre zur Suizidprävention der Arbeitsgemeinschaft „Alte Menschen“ des NaSPro von 2015.

Eine solche Einwilligung ins Sterben, ein „Sterbenwollen und Sterbenwünschen“ sei oftmals Teil des Sterbeprozesses und sollte als solcher verstanden, akzeptiert und begleitet werden.

Psychiater Lindner bezeichnet das als „Lebenssattheit“. Im Idealfall ist das ein Zustand, in dem ein Mensch zufrieden ist mit seinem bisherigen Leben und dem Tod ohne besondere Furcht entgegensieht.

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