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Ein Porträtfoto von Hartmut von Hentig.

© picture alliance / dpa

Hartmut von Hentig zum 90. Geburtstag: Schule als Keimzelle der Demokratie

Hartmut von Hentig, der heute 90 Jahre alt wird, hat die deutsche Bildungsdiskussion mit theoretischen Impulsen und praktischen Reformen bereichert. Doch der Skandal um die Odenwaldschule traf auch ihn.

Man müsse die Menschen so erziehen, dass sie ein zweites 1933 erkennen und verhindern würden; dass sie es aushielten, mit einer Wahrheit alleinzustehen, anstatt sie für die Sicherheit, die das Aufgehen in der Gruppe garantiert, über Bord zu werfen. Ganz im Sinne Jean-Jaques Rousseaus komme es darauf an, die individuellen Potenziale eines Menschen von klein auf zu fördern. Die den herkömmlichen Belehrungsschulen eignende Kasernierung dagegen leiste dem Totalitarismus Vorschub. „In Gruppen über 20 Schülern“, so schrieb Hartmut von Hentig einmal, „beginnt allmählich das Militär.“

Eine Reformschule statt der klassischen Belehrungsschule

Wie kaum jemand sonst hat der Altmeister der deutschen Reformpädagogik, der an diesem Mittwoch seinen 90. Geburtstag begeht, den bundesrepublikanischen Bildungsdiskurs als theoretischer Impulsgeber und praktischer Reformer bereichert. Nach einem leidigen Studium in Göttingen, das der 1925 geborene Hentig kurz nach seiner Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft begann, und einer umso lohnenderen Promotion in den USA debütierte er zunächst als Lehrer. 1963 ereilte ihn dann der Ruf nach Göttingen, wo Hentig trotz ausstehender Habilitation als Pädagogikprofessor praktizierte. Ende der 60er Jahre kam er schließlich an die frisch gegründete Uni Bielefeld, wo er die zur klassischen „Belehrungsschule“ konträre Reformschule initiierte, der er bis zu seiner Emeritierung in den späten 80ern vorstand.

Eine Miniatur der attischen Polis sollte sie sein, gleichermaßen Lern- und Lebensstätte, ein „Embryo“ der Gesellschaft im Sinne John Deweys, wo die Schüler ihre persönlichen Vorlieben und Stärken profilieren und sich im demokratischen Miteinander einüben konnten.

Auch wenn sich in Bielefeld nicht alles verwirklichen ließ, was dem Reformpädagogen vorschwebte – dem rousseauschen Gedanken, die moralische und kognitive Kompetenz des Kindes nicht dozierend, sondern durch Erfahrung und Einsicht nach dessen eigenem Rhythmus zu entfalten, ist Hentig treu geblieben.

Keine Distanzierung von Odenwald und der Rolle des Partners

In den letzten Jahren aber wurde es stiller um den Erziehungswissenschaftler, der auch nach seiner Emeritierung als bedeutender Pädagogik- und Demokratietheoretiker die Debatte belebte. Im Zuge des Odenwaldskandals rang Hentig sich nicht dazu durch, zu seinem Lebenspartner Gerold Becker, dem pädokriminellen Haupttäter in den Missbrauchsfällen an der Odenwaldschule, auf Distanz zu gehen. Dass die Reformpädagogik – wie fortan zuweilen behauptet wurde – ob ihrer expliziten Zuwendung zum einzelnen Kind den Missbrauch befördert, ist sicherlich falsch. Richtig aber ist, dass sie pädophilen Trittbrettfahrern mancherorts einen gefährlichen Freiraum bot.

Hentigs mindestens naive Interpretation der Vorfälle rund um die Odenwaldschule warf einen hässlichen Schatten auf eine moralisch ansonsten hochambitionierte Biografie. Seine epochale Leistung in Sachen Schulreform und die Bedeutung seines polit-pädagogischen Werkes sind gleichwohl unbestritten.

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