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Soziologie: Gesundheitsschädliche Jugendarmut

Deutschland und Frankreich wollen bessere Public-Health-Programme. Die Franzosen haben mit ihrem Nachwuchs den gleichen Kummer wie wir.

Zahlreiche Kinder und Jugendliche essen zu viel Süßes und Fettes, bewegen sich zu wenig und legen mit ihrem Übergewicht die Grundlage für spätere Krankheiten. Viele geraten zudem schon früh aus dem seelischen Gleichgewicht, werden depressiv, süchtig oder gewalttätig.

Diese negativen Gemeinsamkeiten veranlasste Frankreichs Botschaft in Berlin, die Gesundheit von Jugendlichen in den Mittelpunkt ihrer zweiten Public-Health-Fachtagung zu stellen, die in diesem Jahr zusammen mit der Berlin School of Public Health (BSPH) und dem Robert-Koch-Institut (RKI) stattfand.

In beiden Ländern wird erforscht, was die Gesundheit der Jugendlichen gefährdet und was man dagegen tun kann – Fragen, die in Deutschland wie in Frankreich zum Politikum geworden sind. Im Februar hatte die französische Regierung einen Jugendgesundheitsplan vorgestellt. Er sieht Maßnahmen im Kampf gegen Drogen und Gewalt sowie für eine gesündere Ernährung und mehr Bewegung vor. In Berlin stellte das Bundesgesundheitsministerium am Mittwoch einen ähnlichen Katalog vor – den Nationalen Aktionsplan zur Prävention von Fehlernährung, Bewegungsmangel, Übergewicht und damit zusammenhängenden Krankheiten.

Gesundheitswissenschaftler äußerten sich bislang über den Nutzen bisheriger, ohne sorgfältige Prüfung begonnener Präventionsobjekte skeptisch. Anne Fagot-Largeault vom Collège de France konnte zwar viele Erhebungen und Präventionsstudien aufzählen, vermisste aber daraus folgendes Handeln. Und wenn man etwas tue, werde dabei zu wenig erforscht, welche Projekte tatsächlich Erfolg versprechend seien, sagte Ulrike Maschewsky-Schneider von der BSPH.

Die bisherigen Evaluationen zeigen, dass Gesundheitsprogramme am wenigsten denen nützen, die sie am nötigsten brauchen: den Kindern und Jugendlichen am Rande der Gesellschaft. Michel Chauliac vom französischen Gesundheitsministerium bestätigte dies am Beispiel eines Ernährungs- und Gesundheitsprogramms. Seit dessen Beginn im Jahr 2001 stieg zwar die Gesamtzahl übergewichtiger Kinder nicht weiter an, aber die Unterschiede zwischen den Schichten wurden größer. Über die besonders gefährdete Gruppe der Einwandererkinder weiß man in Frankreich wenig, weil dort der Datenschutz Wissenschaftlern sogar verbietet, nach der Herkunft zu fragen. Die Franzosen beneiden uns offensichtlich um die – hier längst bekannten – detaillierten Ergebnisse des großen Kinder-und-Jugend-Surveys des RKI, auch zum Thema Migration und Gesundheit. Wie die RKI-Forscherin Hanne Neuhauser berichtete, haben Kinder, deren Familien aus der Türkei, der früheren UdSSR oder den arabischen Ländern kommen und hier in Deutschland meist den unteren Schichten angehören, die größten Gesundheitsrisiken. Manchmal aber hat die Kultur des Herkunftslandes positiven Einfluss, wie etwa das islamische Alkoholverbot.

Wissenschaftlich begleitete Präventionsprogramme mit dem Ziel, dass Jugendliche gesünder leben, sind zwar notwendig, sagte Ulrike Maschewsky-Schneider; besser beeinflussbar sei das Verhalten aber, wenn zugleich die Verhältnisse sich ändern, von denen es abhängt. Eine wirksame Gesundheitsförderung erfordert also auch Maßnahmen gegen Armut und für den Zugang zur Bildung, betonte Karin Knufmann-Happe vom BMG.

Die von der Weltgesundheitsorganisation WHO schon im Jahr 1986 in der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung verbreitete Erkenntnis, dass Medizin und Gesundheitspolitik allein nicht genügen, wurde auch von französischer Seite hervorgehoben: Zwar ist seit langem bekannt, dass soziale Ungleichheit auch gesundheitliche Ungleichheit bedeutet. „Aber das hat kaum praktische Folgen“, kritisierte Patricia Loncle von der Nationalen Hochschule für Public Health Paris/Rennes. Denn die Verbesserung der Lebensverhältnisse ist schwieriger und teurer als ein Präventionsprogramm. Menschen zwischen 18 und 27 Jahren, die im Arbeitsleben nicht Fuß fassen, haben das höchste Armuts- und daher Krankheitsrisiko, besonders im ärmeren Süden Frankreichs, wo die Lebenserwartung um fünf Jahre geringer ist als im Norden.

Der Plan des französischen Gesundheitsministeriums – das zugleich das Ressort für Jugend und Sport ist – ziele daher nicht nur auf die Veränderung des Lebensstils, sagte Patricia Loncle. Es nimmt die am meisten gefährdete Gruppe besonders in den Focus und will Jugend- und Gesundheitspolitik integrieren.

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