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Die Architekten Hermann Fehling, Daniel Gögel und Peter Pfankuch hatten das Gebäude-Ensemble im Stil der Nachkriegsmoderne transparent gestaltet.

© Mila Hacke

Ein demokratisches Projekt: Gelebte Demokratie – das Studentendorf Schlachtensee wird 60

Hier diskutierten die Politiker Egon Bahr und Franz-Josef Strauß über die Ostpolitik. Die 1959 eröffnete Siedlung ist kein Wohnheim wie jedes andere.

Als das Studentendorf der Freien Universität im Jahr 1959 eröffnet wird, ist es das bis dahin größte und modernste Studentenwohnheim Berlins. Doch es soll noch viel mehr sein. Finanziert mit 7,5 Millionen Deutschen Mark vom amerikanischen Außenministerium und weiteren Mitteln der Ford Foundation, soll hier die künftige Elite eines demokratischen Deutschlands ein Zuhause finden. „Das Studentendorf entstand als Teil des amerikanischen Reeducation-Programms“, sagt Jens-Uwe Köhler. „Nach der Erfahrung des Nationalsozialismus sollten junge Menschen dort demokratisches Zusammenleben erlernen.“

Köhler, studierter Germanist, lebte von 1991 bis 2001 im Studentendorf – heute ist er einer der beiden Vorstände der Genossenschaft, die das Wohnheim seit 2002 betreibt. „Natürlich hat sich seit der Gründung vor 60 Jahren einiges verändert“, sagt er. „Aber wir fühlen uns dem geschichtlichen Erbe bis heute verpflichtet.“

Hausgemeinschaften und ein "Dorfrat" als Demokratiebeispiel

Nach der Eröffnung im November 1959 ziehen 565 Studierende nach Schlachtensee. Betrieben wird die Einrichtung von der eigens gegründeten Stiftung Studentendorf. Die Verantwortung tragen die Freie Universität, das Land Berlin und die Ford Foundation. Doch die Studierenden sollen das Zusammenleben in Eigenregie gestalten. Ein komplexes Partizipationsmodell gibt die Regeln vor: Die Bewohnerinnen und Bewohner schließen sich zu Hausgemeinschaften zusammen, die Vertretungen an den „Dorfrat“ entsenden, eine Art Parlament. Der Rat benennt den studentischen Bürgermeister und bildet verschiedene Ausschüsse, etwa für die Aufnahme neuer Bewohnerinnen und Bewohner oder das Kulturprogramm.

Auch die Architektur des Dorfes ist so gestaltet, dass das Zusammenleben gefördert wird. Das Ensemble im Stil der Nachkriegsmoderne wurde von den Architekten Hermann Fehling, Daniel Gogel und Peter Pfankuch sehr transparent entworfen, mit einem besonderen Augenmerk auf die Gemeinschaftsflächen. Seit 2006 genießt das Studentendorf Schlachtensee, wie es seit den 1970er Jahren heißt, den Rang eines Nationalen Kulturdenkmals.

Die US-Berlin-Beauftragte Eleanor Dulles und der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin Willy Brandt legten am 10. Oktober 1957 den Grundstein für das Studentendorf Schlachtensee.

© Horst Siegmann, Universitätsarchiv FU

Ein ehemaliger Bürgermeister des Studentendorfes ist Ekkehard Wesner. Der heute 80-Jährige lebte von 1963 bis 1966 in Schlachtensee und setzte dort viele politische Projekte um. Als der spätere Bundeskanzler Willy Brandt und der spätere Bundesminister Egon Bahr Anfang der 1960er Jahre erste Ideen zu ihrer Neuen Ostpolitik entwickeln, organisiert er im Gemeinschaftshaus des Dorfes eine Diskussionsveranstaltung. Es kommt Bahr persönlich – und als Diskussionspartner der langjährige CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß.

In Schlachtensee wird auch Fluchthilfe für Menschen aus Ost-Berlin organisiert. Burkhart Veigel, einer der prominentesten und erfolgreichsten Fluchthelfer aus dem Westen Berlins, wohnt im Studentendorf. Durch ihn wird das Wohnheim in den 1960er Jahren für einige Geflüchtete zur ersten Anlaufstelle im Westen.

Als Ekkehard Wesner die Idee hat, Professoren aus der Humboldt-Universität zu einer Diskussionsrunde ins Studentendorf einzuladen, nimmt er Kontakt zu den DDR-Flüchtlingen im Dorf auf. Es ergibt sich ein Kontakt zum Liedermacher Wolf Biermann. Der vermittelt sie weiter an Robert Havemann, damals Professor für Physikalische Chemie an der Humboldt-Universität zu Berlin und bekannter Kritiker des SED-Regimes. Wesner fährt auf Besuch nach Ost-Berlin. „Havemann war sehr interessiert“, sagt Wesner. „Aber leider lehnten der Rektor der Freien Universität Berlin und der Wissenschaftssenator West-Berlins das Vorhaben damals ab.“

„Man konnte Menschen aus der ganzen Welt kennenlernen“

Als im Jahr 1967 der West-Berliner Student Benno Ohnesorg erschossen wird, hält die Studentenbewegung auch in Schlachtensee Einzug. „Das war ein deutlicher Einschnitt“, sagt Jens-Uwe Köhler. „Viele Bewohnerinnen und Bewohner wurden durch Ohnesorgs Tod politisiert und mobilisiert.“ Sie protestieren gegen die immer noch herrschende Geschlechtertrennung im Dorf. Bald darauf folgt ein Mietstreik für ein bundesweites Wohngeld für Studierende.

Doch das politische Engagement der Studierenden kommt nicht überall gut an: Hatte man noch wenige Jahre zuvor den fehlenden Einsatz der Bewohnerinnen und Bewohner beklagt, wird es der Stiftung Studentendorf nun zu viel. Anfang der siebziger Jahre wird das Experiment demokratische Selbstverwaltung aufgegeben. Die Stiftung wird aufgelöst, das Studentendorf unter die Trägerschaft des Berliner Studentenwerks gestellt.

„Ein Studentenheim wie jedes andere wurde Schlachtensee trotzdem nicht“, sagt Christa Markl-Vieto. Die Politikerin von Bündnis 90/Die Grünen war 1973 in eine Wohngemeinschaft eingezogen – 19 Jahre jung und ohne Abitur. Abends lernt sie mit ihren Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern. Sie holt ihr Abitur nach, nimmt schließlich ein Studium der Erziehungswissenschaft an der Freien Universität auf. „Man konnte Menschen aus der ganzen Welt kennenlernen“, sagt sie. „Es lebten damals im Dorf viele Intellektuelle etwa aus dem Iran und den palästinensischen Gebieten, alle sehr engagiert, sehr belesen.“ Zehn Jahre lang lebt Markl-Vieto in Schlachtensee. Sie lernt dort ihren späteren Ehemann kennen, einen angehenden Bauingenieur aus Costa Rica. 1980 kommt die gemeinsame Tochter zur Welt. Ihre ersten drei Lebensjahre verbringt sie in Schlachtensee.

In dem Wohnheim lebten Studierende aus aller Welt, manche – wie hier im Bild aus dem Jahr 1962 – sogar als kleine Familie.

© Bernd Sass, Fotosammlung Landarchiv Berlin

Heute sind es Menschen wie Johanna Heß und Andrew Hoy Mades, die das Leben im Studentendorf prägen. Das deutsch-amerikanische Paar setzt sich dafür ein, dass die Tradition des politischen Engagements erhalten bleibt. „Wir wollen die Bewohnerinnen und Bewohner zusammenbringen, ein Forum schaffen, in dem man Ideen gegenüber der Verwaltung formulieren kann“, sagt Andrew Hoy Mades.

Ein Ort, "wo man sich einsetzt und einmischt"

Gerade sind die beiden dabei, Kontakte zu knüpfen und erste Treffen zu organisieren. „Besonders spannend ist die Zusammenarbeit mit Studierenden aus Ländern, in denen Demokratie nicht selbstverständlich ist“, sagt Johanna Heß. „Viele Menschen lernen hier erstmals, sich zu organisieren und ihre eigenen Interessen zu vertreten.“ So wiederholt sich im Studentendorf die Geschichte. Christa Markl-Vieto, heute Vorsitzende des Aufsichtsrats der Genossenschaft, freut das ganz besonders. „Wir wollen ein Ort sein, an dem über gesellschaftliche Fragen debattiert wird“, sagt sie. „Wo man sich einsetzt und einmischt.“

Es ist nicht selbstverständlich, dass es diesen Ort in dieser Art noch gibt. Um die Jahrtausendwende wäre das Studentendorf um ein Haar abgerissen worden. Die Berliner Landesregierung plante einen Grundstückstausch mit einer Investorengruppe. Im Gegenzug für Teile der ehemaligen Schultheiss-Brauerei, die als Standort für die Berlinische Galerie vorgesehen war, sollten die Investoren das Gelände des Studentendorfs erhalten. Das Studentenwerk begann, das Dorf nach und nach zu leeren. Im Jahr 2001 waren es nur noch 20 Hartnäckige, die trotz Räumungsklagen in ihren Wohnungen verblieben und sich gegen die Vertreibung wehrten.

Gelebte Demokratieerfahrung ist aktueller den je

Auch Jens-Uwe Köhler und Christa Markl-Vieto sind bei den Protesten dabei. Prominente Unterstützung erhalten sie von dem Architekten Hardt-Waltherr Hämer, genannt Gustav, dem ehemaligen Chef der Internationalen Bauausstellung 1987 (IBA-Alt), Vizepräsident der Akademie der Künste und Direktor der Stiftung Bauhaus-Dessau. Sie informieren die Öffentlichkeit, nehmen Kontakt zur Leitung der Freien Universität Berlin und dem Allgemeinen Studenten-Ausschuss (AStA) auf.

Nach zähem Ringen setzen sie sich schließlich durch. Im September 2002 wird eine Genossenschaft gegründet, rund ein Jahr später kann der Kaufvertrag mit dem Land Berlin unterzeichnet werden. „Ohne die langjährige und tiefe Partnerschaft mit der Freien Universität hätte das nicht geklappt“, sagt Andreas Barz, Vorstandsvorsitzender der Genossenschaft.

Heute leben rund 900 Studierende im Studentendorf Schlachtensee, Bald sollen es noch mehr sein. An einem Ort, der nicht nur wegen des angespannten Wohnungsmarktes dringend gebraucht werde, sagt Barz. „Angesichts der antidemokratischen Bewegungen und autoritärer Regime, die zunehmend an Stärke gewinnen, ist gelebte Demokratieerfahrung, wie sie das Studentendorf bietet, aktueller denn je.“

Dennis Yücel

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