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Mobile Suppenküche 1938 in Zbaszyn: Die Bevölkerung wurde in polnisch-jüdischen und jiddischen Zeitungen aufgerufen, Lebensmittel, Sachgegenstände und Geld für die ausgewiesenen Juden zu spenden.

© Yad Vashem

Ausstellung im Centrum Judaicum: Gegen das Vergessen

Studierende und Wissenschaftlerinnen der Freien Universität haben das Schicksal polnisch-jüdischer Familien aus Berlin erforscht, die 1938 von den Nationalsozialisten verhaftet und deportiert wurden.

Im Oktober 1938 wurden im nationalsozialistischen Deutschland mehr als 16 000 Jüdinnen und Juden polnischer Staatsangehörigkeit verhaftet und an die polnische Grenze deportiert. Viele von ihnen waren in Deutschland geboren worden oder lebten seit Jahrzehnten dort. Sie waren, wie man heute sagen würde, Deutsche mit Migrationshintergrund. Eines Tages stand die Polizei vor ihrer Haustür. Der Plan der deutschen Regierung war es, die Menschen nach Polen abzuschieben, „Polenaktion“ nannten die Nazis ihr menschenverachtendes Vorgehen.

Der polnische Staat hatte den meisten der Ausgewiesenen zuvor die polnische Staatsangehörigkeit entzogen. Sie wurden in Polen von jüdischen Hilfsorganisationen betreut, mehrere tausend Menschen mussten bis zum Sommer 1939 in einem Flüchtlingslager an der deusch-polnischen Grenze verbleiben. Viele von ihnen wurden später von den Nationalsozialisten ermordet.

„Mit der ,Polenaktion’ begann die Radikalisierung der Verfolgung von Jüdinnen und Juden durch die Nazis“, sagt Gertrud Pickhan. „Dennoch ist sie als eigenständiges historisches Kapitel bislang noch unzureichend erforscht.“ Gertrud Pickhan ist Professorin für Geschichte am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. Gemeinsam mit der Historikerin Alina Bothe, die gerade an ihrer Habilitationsschrift zu dem Thema arbeitet, und Studierenden der Freien Universität hat sie die Geschichte der 1938 deportierten jüdischen Berlinerinnen und Berliner nun aufgearbeitet. Seit 2014 haben Gertrud Pickhan und Alina Bothe insgesamt vier Seminare betreut, in denen Studierende die Familiengeschichten und Schicksale der Betroffenen selbstständig erforscht haben. Das aufwendige Projekt wurde mit dem Lehrpreis der USC Shoah Foundation ausgezeichnet, einem von dem Regisseur Steven Spielberg in den USA gegründeten Archiv, in dem weltweit Berichte von Holocaust-Überlebenden auf Video gesammelt sind, um sie nachfolgenden Generationen zur Verfügung zu stellen.

Das Visual History Archive ist heute an der University of Southern California in Los Angeles beheimatet, die Freie Universität Berlin ist eine von 80 Institutionen weltweit, die mit der Shoah Foundation kooperieren: Seit 2006 besteht über das Center für Digitale Systeme der Freien Universität für Studierende, Lehrende, Forschende und Interessierte ein direkter Archivzugang.

"Man hat nicht oft die Chance, so intensiv an einem Thema zu arbeiten"

Vom 8. Juli an werden die Ergebnisse der Forschungsarbeit zur „Polenaktion“ in einer von Alina Bothe kuratierten Ausstellung im Centrum Judaicum gezeigt. Die Projektleitung lag bei Gertrud Pickhan und Christine Fischer-Defoy vom Verein „Aktives Museum Faschismus und Widerstand in Berlin“, die Koordination bei Kaspar Nürnberg vom Aktiven Museum. Anhand von Originaldokumenten wie Fotos, Postkarten und Akten wird die Geschichte von sechs Berliner Familien, die von der Ausweisung betroffen waren, detailliert rekonstruiert: „Wir wollen ihre Leben dem Vergessen entreißen“, sagt Alina Bothe.

Viele der Studierenden begleiten das Projekt bereits seit mehreren Semestern. Große Teile ihres Masterstudiums sind davon geprägt. „Man bekommt nicht oft die Chance, im Studium derart intensiv an einem Thema zu arbeiten“, sagt Studentin Christine Meibeck. „Wir konnten richtige Forschungsarbeit leisten.“ Gemeinsam mit ihrer Kommilitonin Lara Büchel hat sie die Geschichte der Berliner Künstlerfamilie Merory rekonstruiert, von der ein großer Teil durch die Nationalsozialisten ermordet wurde. Recherchiert haben die beiden etwa die Karriere des Schauspielerehepaars Ella und Martin Merory. Letzterer war in den 1920er Jahren Mitglied im Ensemble der Zweiten Piscator-Bühne des Theaters am Nollendorfplatz. Dort befand sich damals das Zentrum der künstlerischen Avantgarde – unter anderem arbeitete Bertolt Brecht an dem Theater. Gemeinsam mit seinen Brüdern wurde Martin Merory im Oktober 1938 deportiert. Sein Schicksal ist bis heute nicht aufgeklärt.

Martin Merory in "Kasperles Fahrt ins Märchenland" um 1930 im Renaissance-Theater in Charlottenburg.

© Archiv der Akademie der Künste Berlin

Walter Merory, der Bruder von Martin, mit Tochter Ingeborg.

© privat

Vieles von dem Material, das die Studierenden gesichtet haben, war bislang gänzlich unbekannt. „Was in der Ausstellung gezeigt wird, sind neueste historische Erkenntnisse, die noch nirgendwo veröffentlicht worden sind“, sagt Alina Bothe. Dies betrifft unter anderem den Ablauf der Deportation, aber auch die konkreten Lebensgeschichten der betroffenen Menschen. Die Quellen zu den Biografien sind von den Studierenden aus verschiedenen Archiven zusammengetragen worden.

Eine der Hauptquellen war die Entschädigungsbehörde des Landes Berlin. Dort konnten während des Nationalsozialismus Verfolgte nach dem Krieg im Rahmen der „Wiedergutmachungspolitik“ der Bundesrepublik finanzielle Kompensation erhalten. „Die Entschädigungspolitik ist kein Ruhmesblatt in der Geschichte der Bundesrepublik“, sagt Gertrud Pickhan: „Die Geldsummen waren gering, und man hat von den Opfern verlangt, dass sie dafür jedes Detail ihrer Verfolgung peinlich genau schildern und nachweisen.“

Die Studierenden haben die Verlegung von 30 Stolpersteinen beantragt

Anhand dieser Akten etwa hat die Studentin Anne Meißner die Geschichte der Familie Eilberg rekonstruiert. Der gelernte Textilkaufmann Bernhard Eilberg, 1911 in Berlin geboren, wurde im Oktober 1938 von der Gestapo in seiner Wohnung in der Kreuzberger Cuvrystraße festgenommen und schließlich vom Bahnhof Treptow aus Richtung Polen deportiert. Fünfeinhalb Jahre lang war er in verschiedenen Arbeits- und Konzentrationslagern, bis er zum Kriegsende befreit wurde. Anschließend kehrte er nach Deutschland zurück, wo er 1992 in einem Düsseldorfer Altersheim verstarb.

„Eilberg wurde im KZ angeschossen und hatte Zeit seines Lebens mit den Folgen zu kämpfen“, sagt Anne Meißner. „Jedes Jahr aufs Neue musste er der Entschädigungsbehörde seine gesundheitlichen Beeinträchtigungen nachweisen, um eine Kur bezahlt zu bekommen.“ Wenn man in den Akten der Entschädigungsverfahren lese, berichtet die Studentin, komme man den Menschen sehr nahe. Die Recherche sei deshalb eine sensible Gratwanderung gewesen zwischen dem wissenschaftlichen Interesse und dem Willen, die Privatsphäre der Menschen zu wahren.

„Wir alle haben in den vergangenen Jahren eine Art persönliche Beziehung zu den Familien aufgebaut, deren Geschichte wir erforscht haben“, sagt Christiane Meibeck. „Es war für uns deswegen auch ein sehr emotionales Projekt.“ Über die Ausstellung hinaus wird die Forschung bleibende Spuren hinterlassen. Im Gedenken an die Betroffenen haben die Studierenden die Verlegung von 30 Stolpersteinen beantragt, von denen die ersten bald eingesetzt werden sollen. Im Verlauf der Ausstellung und zu einer Gedenkfeier am 29. Oktober werden mindestens sechs Familien, deren Schicksal erforscht worden ist, nach Berlin kommen – auch die US-Amerikanerin Pamela Dernham, die 63-jährige Enkelin von Martin Merory, dessen Schicksal Lara Büchel und Christiane Meibeck für die Ausstellung rekonstruiert haben. Dann werden sich erstmals die Enkel und Urenkel verschiedener Zweige der Familie Merory kennenlernen. Sie hatten erst durch die Recherche der Studentinnen voneinander erfahren.

Der Ausstellungskatalog "Ausgewiesen! Berlin, 28. Oktober 1938. Die Geschichte der ,Polenaktion’", herausgegeben von A. Bothe und G. Pickhan, umfasst auch 14 recherchierte Familienbiografien. Der Katalog erscheint im Juli bei Metropol, Berlin.

Dennis Yücel

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