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ALS: Für einen längeren Atem

An der Charité werden Kranke mit dem Nervenleiden ALS mit einem Schrittmacher für das Zwerchfell behandelt

Es gibt Krankheiten, die sind zwar selten – doch wer von ihnen gehört hat, fürchtet sie. Ein solches Leiden ist die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). Von 100 000 Menschen erkranken hierzulande im Lauf ihres Lebens nur drei bis acht. Spätestens seit der Maler Jörg Immendorff an dem Nervenleiden starb, wissen jedoch viele, dass die ALS unheilbar ist und mit unaufhaltsamen Einschränkungen einhergeht. Aus bislang ungeklärter Ursache sterben bei dieser Erkrankung nach und nach Nervenzellen im Gehirn und Rückenmark, die den Muskeln das Signal zur Bewegung geben. Die Betroffenen leiden zunächst meist unter einer Schwäche in den Händen und Füßen, später kommen Krämpfe und Lähmungen hinzu, Sprechen und Schlucken werden unmöglich. Lebensbedrohlich wird die Situation, wenn die Atmung betroffen ist.

Nun gibt es Hoffnung, dass dieser Zeitpunkt zumindest hinausgeschoben werden kann. Sie gründet sich auf ein Gerät, dass nicht viel größer ist als ein Handy. Vier Kabel verbinden es mit der Unterseite des Zwerchfells – des wichtigsten Atemmuskels, der bei der neurologischen Erkrankung zunehmend dünner und schwächer wird. Kurz vor Weihnachten wurden die ersten beiden europäischen Patienten an der Berliner Uniklinik Charité mit dem Zwerchfellschrittmacher versorgt.

Die Impulsgeber (Elektroden) wurden von Sven-Christian Schmidt und Robert Eisele aus der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie der Charité in Schlüssellochtechnik am Zwerchfell verankert, außen sind die Kabel mit dem kleinen Apparat verbunden. Für die weitere Betreuung ist die ALS-Ambulanz zuständig, wo die Geräte eingestellt und aktiviert wurden und wo die Patienten auch weiter ambulant betreut werden.

Demnächst soll ein weiterer europäischer Patient in der altehrwürdigen Pariser Klinik Salpetrière operiert werden. Wie in Berlin wird Raymond Onders, der das Verfahren an der Uniklinik in Cleveland entwickelte, den Operateuren beratend zur Seite stehen.

Aus den USA gibt es inzwischen Erfahrungen mit 50 ALS-Patienten. Zuvor war die Methode aber auch schon bei Querschnittsgelähmten angewandt worden, die auf Beatmungsgeräte angewiesen waren. Die Operateure sind im Lauf der Zeit routinierter und schneller geworden.

Thomas Meyer, Leiter der ALS-Ambulanz auf dem Campus Virchow, hofft, dass nun auch an der Charité bald weitere ALS-Patienten den Zwerchfellschrittmacher bekommen können. Die Stimulationselektroden können einerseits vorbeugend eingesetzt werden. So ist es jetzt in Berlin bei einer Patientin geschehen, die noch normal atmen konnte. Zu Beginn der Erkrankung fällt der Muskelschwund am Zwerchfell nicht weiter auf. Die Erfahrungen aus den USA zeigen aber, dass es schon in dieser frühen Phase etwas bringt, den Muskel zu stimulieren – für wenige Stunden am Tag. Das soll nun an der Charité wissenschaftlich untermauert werden.

„Die Atemlähmung ganz abwenden zu wollen, ist wohl zu optimistisch. Aber es ist ein großer Unterschied, ob jemand nachts mit einer Atemmaske samt allen damit verbundenen Belästigungen schlafen muss oder ob zeitweise das Stimulationsgerät in Betrieb ist“, sagt Meyer.

Die äußerste Möglichkeit ist bei weiterer Verschlechterung ein Luftröhrenschnitt, mit dem die Voraussetzungen für eine dauerhafte maschinelle Beatmung geschaffen werden. Nur knapp jeder 20. Patient stimmt heute in Deutschland einer solchen Behandlung zu. Hier ist die viel zitierte Angst, von Apparatemedizin abhängig zu sein und sich später einer unerwünschten Lebensverlängerung nicht widersetzen zu können, ganz konkret. Für Meyer ist es deshalb wichtig, dass auch die Entscheidung für die künstliche Beatmung jederzeit vom Betroffenen selbst revidiert werden kann.

An die Zwerchfellstimulation knüpft sich nicht zuletzt die Hoffnung, dass diese schwere Entscheidung in Zukunft für ALS-Kranke später gefällt werden kann. Der Schrittmacher kommt nämlich auch für Patienten infrage, die schon Schwierigkeiten mit der Atmung haben. Der zweite Patient, der jetzt in Berlin das Gerät bekam, verfügte im Liegen nur noch über 30 Prozent der normalen Atemkapazität. „Eine Operation ist in dieser Situation natürlich riskanter“, sagt Meyer. Der Patient musste nach dem Eingriff auf der Intensivstation überwacht werden, die Ärzte sorgten sich, dass er von der narkosebedingten Beatmung nicht mehr wegkommen würde.

Noch handelt es sich um ein experimentelles Verfahren. Die beiden Operationen wurden aus Spenden bezahlt. Es gab eine Einzelspende, aber auch die Erlöse einer Auktion in den Kunsthöfen auf der Oranienburger Straße. Wenn sich zeigt, dass die Methode wirkt, wird sie den Status des „individuellen Heilversuchs“ verlassen können.

Der Schrittmacher könnte sich dann als Segen für viele Patienten erweisen. „Das Grundproblem der ALS wird damit aber nicht gelöst, sie bleibt eine fortschreitende Erkrankung, die mit Autonomieverlust einhergeht“, sagt Meyer nüchtern. ALS-Spezialisten sind es gewöhnt, dass sie ihren Patienten keine Heilung versprechen können. Das macht sie jedoch nicht zu Defätisten, eher zu Pragmatikern. Wenn der Neurologe die Zwerchfellstimulation als „Erleichterungsmedizin“ bezeichnet, so ist das nicht abwertend gemeint. Es zeigt aber, dass ein großer Wunsch unerfüllt ist: ein Medikament, das den Untergang der Nervenzellen aufhält oder wenigstens verlangsamt.

Mehr Informationen über ALS unter:

www.als-charite.de

Adelheid Müller-Lissner

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