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Ansicht eines einstöckigen Gutshauses, dessen Portal von zwei Bäumen gesäumt ist.

© Verlag

Familiengeschichte im Nationalsozialismus: „Eine einzige schreckliche Wunde“

Jüdische Häftlinge zu medizinischen Zwecken gequält: Uta von Arnim hat aufgearbeitet, welche Rolle ihr Großvater im besetzten Lettland und Litauen spielte.

Die Läuse sitzen in kleinen Plastikschachteln und haben Hunger. Auf den Armen und Händen der Häftlinge sind jeweils mehrere Schachteln festgebunden, den Geruch menschlicher Haut erkennen die Krabbeltiere durch eine feine Gazebinde hindurch.

Wenn die Tiere satt sind, sind sie dunkelrot. Sie werden gebraucht: zur Impfstoffproduktion, gegen das gefürchtete Fleckfieber. Dass die Arme der jüdischen Häftlinge durch die Prozedur anschwellen, sich entzünden und „in eine einzige schreckliche Wunde“ verwandeln, interessiert hier keinen.

Die Szene spielt im Jahr 1943 außerhalb von Riga, im Kleistenhof, einem Gutshaus, auf dessen Gelände das „Seruminstitut“ zur Impfstoffherstellung und das „Institut für medizinische Zoologie“ ansässig sind.

Beide stehen unter der Aufsicht von Herbert Bernsdorff, dem Leiter der „Abteilung Gesundheit und Volkspflege“ der nationalsozialistischen Verwaltung, zuständig für die besetzten Länder Lettland, Litauen, Estland und einen großen Teil Weißrusslands. Er hat, zusammen mit seiner Frau Edda, das Gut Kleistenhof 1941 geerbt – und er ist der „schöne Opa“ von Uta von Arnim.

In der Familie wurde über seine Tätigkeit im Krieg nicht gesprochen

Die Medizinerin und Journalistin, ehemals Tagesspiegel-Redakteurin, hat sich auf eine intensive Spurensuche begeben. In ihrem Buch „Das Institut in Riga. Die Geschichte eines NS-Arztes und seiner ,Forschung'“ (Verlag Nagel & Kimche) rekonstruiert sie das Wirken des Mannes, der 1968 starb, als sie selbst vier Jahre alt war.

[Die Autorin liest aus ihrem Buch am 24. März um 12.30 Uhr im Literaturhaus Berlin, am 30. März im Klick-Kino, am 3. Mai in der Schwartzschen Villa und am 16. Juni im Domstift Brandenburg.]

In der Familie wurde über Bernsdorffs Tätigkeit während des Krieges nicht gesprochen. Die Enkelin aber wollte wissen, was der strenge, gutaussehende, stets korrekt frisierte Mann getan hatte, bevor er 1946 mit seiner Frau und fünf Kindern nach Westdeutschland floh und, notdürftig entnazifiziert, als Landarzt arbeitete.

Sie führte Interviews mit Verwandten und Historikern, durchforstete Archive in Riga, Hamburg und Berlin, arbeitete sich durch medizinhistorische Fachbücher und nationalsozialistische Akten: Ein umfangreicher Apparat von Anmerkungen zeugt davon, dass hier neben der persönlichen Auseinandersetzung mit dem Vorfahren auch historische Kärrnerarbeit geleistet wurde.

Das Wissen ist nicht leicht zu ertragen

Das Ergebnis ist ein Buch von großer Nüchternheit und gleichzeitig literarischer Qualität. Deutlich wird, auf beklemmende Weise: Die Forschungen an den Läusen, die mit dem Blut jüdischer Häftlinge gefüttert wurden, dienten nicht nur dem Zweck, einen Impfstoff gegen Fleckfieber zu entwickeln, eine Krankheit, die als Folge des Krieges und der entsetzlichen Lebensbedingungen im so genannten „Ostland“ grassierte. Es ging auch darum, Methoden zur „Entlausung“ von Menschen und Kleidung zu entwickeln, die Technik von „Entlausungsanstalten“ zu testen und zu verbessern.

Diese wurden dann andernorts gebaut – teilweise in umgebauten Zügen. In den Kleistenhof kamen Mediziner und SS-Leute, um sich zu informieren. In Fortbildungskursen lernten sie nicht nur, wie man tierische Schädlinge ausmerzt. Ihre Kenntnisse waren auch auf Menschen, die die Nazis als Schädlinge definierten, anwendbar: Wahrscheinlich hat es eine Verbindung zwischen Entlausungsanstalten und Gaskammern gegeben.

Dass der eigene Großvater in diesem Prozess eine zentrale, aktive Rolle spielte: Dieses Wissen ist nicht leicht zu ertragen. Zwischen die präzisen Ausführungen zu den medizinischen Methoden und historischen Hintergründen hat die Autorin literarisch anmutende Passagen eingeschoben, die von Interviews mit der Familie und deren Erinnerungen handeln.

Für Großmutter Edda war der Kleistenhof ein Sehnsuchtsort deutschbaltischer Landidylle. „Das liebe Kleistenhof“! Sie träumte noch lange von dem gehobenen Leben, das sie in Sankt Petersburg, Riga und Posen führen konnte. Ihre Beerdigung 1997 ist der Auslöser für Uta von Arnims Fragen. „Da war doch was. Was war da?“

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