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Verzerrtes Bild. Der „Fall Mollath“ katapultierte die forensische Psychiatrie in die Schlagzeilen und schürte Misstrauen gegenüber den Gutachtern.

© picture alliance / dpa

Psychiatrie: "Fall Mollath" lenkt Fokus auf Maßregelvollzug

Der „Fall Mollath“ lenkt von den eigentlichen Problemen des Maßregelvollzugs ab, finden forensische Psychiater. Die Anstalten seien überfüllt und hätten zu wenig Personal.

Es sind keine Gefängnisse, aber auch keine gewöhnlichen Krankenhäuser. Alles erweckt den Eindruck, als würde hier von Ärzten und Psychologen die Quadratur des Kreises erwartet: Sie sollen die Gesellschaft vor sehr rückfallgefährdeten Straftätern schützen und diesen gleichzeitig die Chance geben, wieder als freie Mitglieder in der Gesellschaft Fuß zu fassen. Sie sollen Menschen behandeln, auch wenn diese sich nicht krank fühlen.

Zwangsbehandlungen sind andererseits nicht mit der Verfassung vereinbar. Wer hierher kommt, hat meist ein schweres Delikt begangen, hat meist eine schwere psychische Erkrankung, war meist zuvor mehrfach in psychiatrischer Behandlung. Bessern und sichern, klassische Hinwendung zum Einzelnen und Gefahrenabwehr für die Allgemeinheit – für Psychiater und Psychologen ist diese Doppelfunktion oft eine Bürde.

Deutlich weniger Rückfälle als im Strafvollzug

Trotzdem sind die Ergebnisse ihrer Arbeit beeindruckend. Nach der Entlassung gibt es unter ehemaligen Patienten des Maßregelvollzugs nur halb so viele Rückfälle wie unter ehemaligen Häftlingen von Strafvollzugsanstalten. Bei Gewalttaten liegt die Quote in den ersten zehn Jahren nach einer Therapie bei rund zehn Prozent. „Der Maßregelvollzug ist sehr, sehr erfolgreich“, sagt Jürgen Müller, Chefarzt der Asklepiosklinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie in Göttingen und Professor an der dortigen Universität. Müller erklärte sein Fach („forensisch“ heißt so viel wie gerichtlich) in der letzten Woche auf einer Veranstaltung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) in Berlin. Anlass war der Fall des kürzlich aus einer Klinik des Maßregelvollzugs entlassenen Gustl Mollath.

Ein viel diskutierter Fall. Schon jetzt seien doppelt so viele Zeitungsbeiträge zum Thema Psychiatrie und Straftäter veröffentlicht worden wie im gesamten Vorjahr, sagte DGPPN-Präsident Wolfgang Maier zu Beginn der Veranstaltung. Seine Fachgesellschaft kann der medialen Aufmerksamkeit durchaus etwas abgewinnen: „Wir befürworten seit Jahren Änderungen im Maßregelvollzug, hatten aber bisher keine solche Resonanz.“

Zu den Wünschen der Fachgesellschaft gehören neben deutlich mehr Personal für die Kliniken einheitliche rechtliche Grundlagen für alle Bundesländer, zeitlich klar befristete Unterbringungen, die Pflicht der Kliniken, mindestens alle drei Jahre ein neues externes Gutachten einzuholen und nicht zuletzt geeignete betreute Wohn- und Therapieformen für das anschließende Leben in Freiheit.

Boombranche Maßregelvollzug

Viele Kliniken platzen aus allen Nähten. Müller bezeichnete den Maßregelvollzug als „boomende Branche“, vor allem die Suchtkliniken. Auch in den psychiatrischen Krankenhäusern des Maßregelvollzugs sind heute doppelt so viele Täter untergebracht wie vor 15 Jahren. Und sie bleiben dort doppelt so lang: im Durchschnitt acht statt früher vier Jahre. Vor allem bei Tätern, die wegen eines Gewaltverbrechens mit sexuellem Hintergrund hier sind, scheint alles andere nur schwer vermittelbar zu sein – zumal die ambulanten Strukturen nach der Entlassung nicht ausreichen. „Patienten mit pädophilen Neigungen sind fast nicht mehr entlassbar“, sagte Müller. „Die Dauer der Unterbringung ist ein massives Problem“, urteilte die Rechtsanwältin Ursula Knecht aus Münster. Während ihre Kollegen früher psychiatrische Gutachten für die Verteidigung nutzten, vermieden sie sie heute.

Trotzdem sei die forensische Psychiatrie keine „Dunkelkammer des Rechts“, wie in der „Süddeutschen Zeitung“ zu lesen war, waren sich die Referenten einig. „Es gibt kein Gebiet des Gesundheitssystems, das so gut beleuchtet ist. Die gesetzlichen Hürden für eine Unterbringung sind hoch“, sagte die Juristin Monika Welzel von der LWL-Maßregelvollzugsabteilung in Münster. Die Arbeit in den Kliniken leide aber unter den hohen Belegungszahlen und zu wenig Personal. Der Fall Mollath habe ein verzerrtes Bild vermittelt und von den eigentlichen Problemen des Maßregelvollzugs abgelenkt.

Die Diskussion über den besonders vertrackten Fall schürte vor allem das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber den Fachgutachtern. Ein „unbescholtener Bürger“ sei „zwangseingewiesen“ worden, so war mehrfach zu lesen und zu hören. „Die Begutachtung wird momentan nur als Übel angesehen“, sagte die Ärztliche Direktorin des LWL-Zentrums für Forensische Psychiatrie in Lippstadt, Nahla Saimeh. „Sie kann aber auch dem Schutz des Täters dienen.“

Mehr Sorgfalt kann eine im Wahn verübte Tat verhüten

Saimeh berichtete von einer Patientin, die aufgrund von Wahnvorstellungen eine Nachbarin erstochen hatte. Zuvor waren mehrere Verfahren wegen geringfügiger Vergehen eingestellt worden. Auch diese Angriffe auf andere Menschen wären ohne die Psychose nicht denkbar gewesen. Saimeh treibt nun die Frage um, ob man mit mehr Sorgfalt Opfer und Täterin vor der Tat hätte bewahren können. Ein weiteres Beispiel sei ein junger Mann, der aufgrund einer schweren Persönlichkeitsstörung und einer Störung der Sexualpräferenz mehrere Hochbetagte brutal vergewaltigt hatte. „Er wollte in die Forensik, er ist ein leidender Mensch und hat Anspruch auf Therapie“, sagte sie. Das „Wegsperren“ ist in einem solchen Fall nur eine Seite der Medaille.

Es sei eine Errungenschaft der europäischen Aufklärung, wenn psychisch kranke Täter heute nicht mit denselben Maßstäben gemessen werden wie voll schuldfähige, sagte Norbert Nedopil, Leiter des Instituts für Forensische Psychiatrie der Uni München. Oft führe das allerdings dazu, dass ihnen die Freiheit länger entzogen ist. „Im Dilemma zwischen Freiheitsanspruch des von Schuld und Strafe freigesprochenen Betroffenen und Sicherheitsanspruch der Gesellschaft gibt es keine Patentlösung.“ Nach Gesetzesänderungen zu rufen, sei nicht sinnvoll, sagte er: „Es bringt mehr, die beteiligten Institutionen zu verbessern und darauf zu achten, dass es kein ungutes Pingpong-Spiel zwischen ihnen gibt.“

Keine andere medizinische Disziplin gerate so schnell in gesellschaftliche Verwicklungen wie die Psychiatrie, gab Henning Saß zu bedenken. Der Vorsitzende der Expertenkommission Psychiatrie und Recht der DGPPN findet es wichtig, dass Juristen und Mediziner auf ihre Zuständigkeiten achten, und dass auch die Öffentlichkeit zwischen den Funktionen trennt. Nur bei der Prüfung der Schuldfähigkeit überschneiden sich der juristische und der medizinische Sektor. Ob jemand ein „unbescholtener Bürger“ ist oder gegen das Gesetz verstoßen hat, entscheidet kein Psychiater.

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