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Mehr als sechs Millionen Erwachsene in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben.

© Matthias Heyde

Expertin zum Weltalphabetisierungstag: „Der lange Arm der Familie greift voll durch“

Anke Grotlüschen erklärt, warum sie nicht mehr von Analphabetismus spricht, wie sich geringe Literalisierung sozial vererbt und wie man Betroffenen helfen kann.

Frau Grotlüschen, Sie sprechen nicht mehr von Analphabetismus beziehungsweise funktionalem Analphabetismus, sondern von geringer Literalität. Warum?
Mit dem Begriff des Analphabetismus – ob mit oder ohne „funktional“ – erzeugen wir immer eine gewisse Stigmatisierung. Leute wollen sich das nicht selbst zuschreiben, damit lockt man keinen in Kurse. Außerdem entsteht bei vielen das Bild, dass es sich um Menschen handelt, die gar keinen Bleistift halten können. Das trifft aber die Befunde gar nicht. Es geht nicht um Menschen, die überhaupt nichts zu Papier bringen können, sondern um Personen, die unterhalb der Textebene schreiben oder lesen. Sie können häufig alle Buchstaben, auch einzelne Wörter schreiben oder lesen und sogar die Satzebene mit Mühe. Aber kurze, einfache Texte können sie nicht sinnerfassend erlesen – und auch nicht selbst zu Papier bringen.

In der bis heute maßgeblichen Studie „Leo 2018 – Leben mit geringer Literalität“ haben Sie festgestellt, dass 6,2 Millionen Menschen in Deutschland nicht richtig lesen und schreiben können. Welche Folgen hat das für die Betroffenen?
Das Allerschwierigste ist das kritische Beurteilen von Sachverhalten im digitalen Raum, im politischen und auch im gesundheitlichen oder finanziellen Raum. Da sind die größten Löcher zwischen Gesamtbevölkerung und gering Literalisierten. Um ein unabhängiges Bild zu bekommen, muss man in der Regel lesen – und genau das wird zur Falle für gering literalisierte Erwachsene. Außerdem gibt es viel Praktisches. Für die Bewerbung bei großen Unternehmen muss alles eingetippt werden, etwa in der Logistikbranche oder bei Burgerketten, wo viele formal gering Qualifizierte arbeiten. Auch die Teilnahme am digitalen Dating- und Heiratsmarkt ist schwierig. Insgesamt muss man sich viel mehr an Freunde halten und ist stärker auf den eigenen Stadtteil zurückgeworfen.

Anke Grotlüschen ist Professorin für Erwachsenenbildung an der Universität Hamburg und Expertin für Literalitätsforschung.

© UHH/Ohme

Welche Rolle spielt die soziale Herkunft für die Frage, ob man richtig lesen und schreiben kann?
Die soziale Vererbung von geringer Literalität ist leider massiv, der lange Arm der Familie greift voll durch. Die Leo-Studien zeigen, dass der Effekt der elterlichen Bildung sehr stark ist, auch wenn man alle anderen Variablen herausrechnet. Nach Migration ist der Schulabschluss der Eltern der stärkste Effekt.

Fast die Hälfte der gering Literalisierten aus der Leo-Studie von 2018 haben eine andere Herkunftssprache als deutsch. In ihrer Herkunftssprache können viele von ihnen jedoch lesen und schreiben. Ist es gerecht, diese Menschen als gering literalisiert zu klassifizieren?
Nein, natürlich nicht. Das ist eine große Schwierigkeit. Wenn wir korrekt formulieren, heißt es ja auch: gering Literalisierte in der deutschen Schriftsprache. Dort, wo wir Platz haben, das zu schreiben, tun wir das auch.

Wie bekommt man mehr Menschen mit anderer Herkunftssprache zur deutschen Schriftsprache?
Man sollte die Betroffenen nicht über die Thematik geringe Literalisierung ansprechen, sondern ihnen Angebote unterbreiten, mit denen sie ihr Schriftdeutsch verbessern können. Diejenigen, die seit 2015 zugewandert sind, haben Integrationskurse durchlaufen. Diese haben einen relativ guten Effekt beim Sprechen, Lesen, Hören. Aber das Schreiben bleibt ein bisschen hintendran, denn das ist das Schwerste und auch nicht das Erste, was ich brauche. Doch wenn ich dann eine Berufsausbildung angehen will, ein Studium aufnehmen oder meinen Kindern bei den Schulaufgaben helfen möchte, muss das Schreiben eben doch sein. Wenn man den Menschen das Ankommen erleichtern will, muss man fortsetzende Schreibkurse anbieten.

In der Alltagskommunikation werden immer mehr Sprachnachrichten genutzt. Wie bewerten Sie das als Literalitätsforscherin?
Mit Sprachnachrichten kann ich Teilhabe generieren, die ich sonst nicht hätte. Ich muss nicht tippen und bin trotzdem beteiligt an der Kommunikation mit anderen. Und da Sprachnachrichten meist gekoppelt sind mit Textnachrichten, bin ich auch immer mit Schrift konfrontiert. Insofern regen Sprachnachrichten immer an, sich mit Schrift zu beschäftigen.

Sie haben herausgefunden, dass mehr Menschen über 45 Jahre nicht richtig lesen und schreiben können als jüngere Erwachsene.
Der Grund, warum die Jüngeren immer besser lesen und schreiben können, ist die Bildungsexpansion. Im Schnitt haben sie einfach sehr viel mehr und längere Bildung abbekommen.

Ist also damit zu rechnen, dass die Zahl der Menschen, die lesen und schreiben können, künftig immer weiter steigt? Oder wäre das zu einfach gedacht?
Wir haben die Hoffnung, dass sich das so ein klein bisschen rauswächst, dass es nach und nach immer besser wird. Allerdings gibt es zwei Einschränkungen. Erstens: Durch die Corona-Pandemie werden wir bei der nächsten Leo-Studie in einigen Jahren sicherlich eine Delle sehen. Zweitens: Zuwanderung ist kein Einzelfall, sie wird anhalten, sei es durch Fluchtmigration oder durch Arbeitsmigration, die ja dringend gebraucht wird. Viele Menschen werden also ein Angebot und eine vernünftige Versorgung benötigen.

Es bräuchte also auch eine Bildungsexpansion im Erwachsenenbereich?
Wir haben eine sehr hohe Investitionsrate im Early-Childhood-Bereich, also im schulischen Ganztag. Da ist wahnsinnig aufgebaut worden nach Pisa. Trotzdem gibt es immer noch rund 20 Prozent einer Kohorte, die abgekoppelt sind. Die haben es entweder in der Schule nicht gelernt, sind nicht rechtzeitig in die Schule gekommen oder hatten noch andere Aufgaben, zum Beispiel eine zweite Sprache erlernen. Diese Menschen haben nichts von der Bildungsexpansion, wenn man immer nur in Early Childhood investiert. Deswegen fordern Gewerkschaften ein Prozent des Bildungshaushalts in der Erwachsenenbildung. Das wäre in den meisten Bundesländern eine Verdoppelung des Budgets.

Was sollte man tun, wenn man das Gefühl hat, jemand kann möglicherweise nicht richtig lesen und schreiben?
Ansprechen, ansprechen, ansprechen! Das ist auch die Botschaft der Betroffenen, die es gelernt haben. Sie sagen: Lass es uns nicht durchgehen, sprich uns an. Natürlich nicht in der Öffentlichkeit, sondern unter vier Augen. Wichtig ist auch der Verweis auf die Grundbildungszentren. In der Beratung dort kann genauer identifiziert werden, welche Kurse oder Angebote das Beste sind.

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