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Genverluste prägten die Evolution von Walen und Delfinen.

© Carl Buell/Science Advances

Evolution von Walen und Delfinen: Genverluste halfen zurück ins Meer

Die mit Flusspferden verwandten Vorfahren der Meeressäuger eroberten die Ozeane erst, nachdem sie bestimmte Gene über Bord warfen.

Es dauerte mindestens 50 Millionen Jahre, bis sich ein paar in Süßwasserlagunen lebende Knochenfische zu den vierbeinigen Urformen aller heute lebenden Landwirbeltiere entwickelt hatten. Aus einst optimal an ein Leben im Wasser angepassten Kreaturen wurden damals im Devon, vor etwa 400 Millionen Jahren, Mutation für Mutation Tiere wie der Wüstenfrosch oder das Kamel, die selbst mit extremer Trockenheit klarkommen.

Die Evolution brachte Organe wie die Lunge für die optimale Atmung von Luft hervor, passte die Haut allmählich mit Panzern, Schleim oder Haaren an die Widrigkeiten des Landlebens an. Und spätestens bei den Dinosauriern wich auch die im Wasser so bewährte stromlinienförmige Eleganz des Fischkörpers mitunter extrem klobigeren Körperformen.

Doch vor etwa 50 Millionen Jahren, im Eozän, wurde es einigen Säugetierarten wohl zu voll an Land oder das Futter zu knapp. Offenbar hatten sie bessere Überlebenschancen, wenn sie im Wasser Beute machten, sich vor Raubtieren in Seen und Meere zurückzogen und das Landleben schließlich ganz aufgaben. Ein Rückzug in das Element, dem ihre Körper allerdings längst entwachsen waren.

85 Gene weniger, aber besser auf ein Leben im Meer getrimmt

Wie diese vierbeinigen Vorfahren der Delfine und Wale es binnen weniger Millionen Jahre schafften, hunderte Millionen Jahre evolutiver Anpassung ans Landleben über Bord zu werfen und ihre Organe, Körper und Physiologie wieder auf eine aquatische Lebensweise zu trimmen, ist für Genforscher seit langem ein faszinierendes Rätsel.

Dutzende Mutationen haben Molekularbiologen in den vergangenen Jahren bereits identifiziert, die dabei eine Rolle gespielt haben müssen. Etwa solche, die den Verlust der Hinterbeine erklären und den Umbau der Vorderbeine zu Flossen. Oder die Veränderungen in den Genen für Stoffe wie Myoglobin, mit denen die Tiere besonders große Mengen von Sauerstoff in den Muskeln speichern können, um auf die typischen, stundenlangen Tauchgänge gehen zu können. Auch der Umbau der Haut in eine zwar haarlose und schweißdrüsenfreie, aber dafür extrem dicke, kälteisolierende und vor Salzwasser schützende Schicht wäre ohne diverse Genmutationen nicht möglich gewesen.

Diese „Superkräfte“ mancher Wale und vor allem die Schnelligkeit der evolutiven Kehrtwende erklärten diese Mutationsfunde jedoch bislang nicht. Jetzt hat eine Forschungsgruppe um Michael Hiller vom Dresdner Max-Planck-Institut für Molekulare Zellbiologie und Genetik 85 Gene entdeckt, die Walen und Delfinen gleich zu Beginn ihres Wassergangs abhanden gekommen sein müssen und den Forschern zufolge entscheidend zur Anpassung an eine vollständig aquatische Lebensweise beigetragen haben dürften.

Fast 20.000 Gene von 62 Delfin-, Wal- und Flusspferdarten untersucht

Die Forscher verglichen dafür 19.769 Gene von 62 Delfin-, Wal- und Flusspferd-Arten – den nächsten, an Land gebliebenen Verwandten der Walartigen. Dabei suchten sie vor allem nach Genen, die bei Flusspferden noch vorhanden, bei Delfinen und Walen jedoch verschwunden sind. Zwar hat es im Laufe der Jahrmillionen zweifelsohne Abertausende von Genveränderungen in der Evolution von Walen und Delfinen gegeben, doch der Verlust ganzer Gene sei „eine wichtige evolutionäre Kraft“, schreiben die Forscher.

Einige der 85 verloren gegangenen Gene brauchten Wale und Delfine wohl schlicht nicht mehr, weil der selektive Druck anders als an Land im Wasser nicht mehr gegeben war - etwa beim Gen „SLC4A9“. An Land ist es nützlich, weil es die Produktion von Speichel ermöglicht, der in wässriger Umwelt aber eher überflüssig ist.

Andere Genverluste hingegen erwiesen sich im Darwin’schen Spiel von Mutation und Selektion als äußerst vorteilhaft für ein Leben im Wasser und rekordverdächtigen Leistungen wie das Tieftauchen. So verloren Wale und Delfine offenbar zwei Blutgerinnungsgene, die gerade beim Tauchen und hohem Blutdruck aber auch zur Bildung von Blutgerinnseln beitragen können. Ihr Verlust ließ mehr Wale auch nach tiefen Tauchgängen überleben, zumal das Verheilen von Wunden durch den Genverlust nicht entscheidend behindert wurde.

Kollabierende Lungen - gefährlich an Land, hilfreich in der Tiefsee

Einige andere der Mutationen, die Hillers Team entdeckte, wären an Land wohl tödlich gewesen. Etwa jene, die das zeitweise Kollabieren der Lungen ermöglichen – in hunderten Meter Tiefe ist aber eben diese Fähigkeit hilfreich: um Auftrieb zu verlieren und die Lunge beim Auftauchen zu schützen. Auch der Verlust sämtlicher Melatonin-Gene – bei Säugetieren essentiell für gesunden Schlaf und den Tag-Nacht-Rhythmus – könnte es den Tieren erst ermöglicht haben, ihre Hirnhälften abwechselnd schlafen zu lassen, um mit der jeweils wachen rechtzeitig auftauchen und Luft holen zu können.

„Die Genverluste sind nicht nur mit einigen aquatischen Spezialisierungen assoziiert, sondern könnten die Anpassung an eine vollständig aquatische Lebensweise erst möglich gemacht haben“, schreiben die Forscher im Fachblatt „Science Advances“. Das zeige, wie wichtig Genverluste für evolutive Anpassungen seien.

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