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Leonard Thompson, erster Patient, der Insulin gespritzt bekam - und ein historischer Behälter von der Universtität Toronto

© UMass Diabetes Center of Excellence

Erste Insulinspritze vor 100 Jahren: Die Rettungsinsel für Millionen

Am 23. Januar 1922 wurde erstmals ein Diabetes-Patient erfolgreich mit Bauchspeicheldrüsen-Extrakt behandelt. Zuvor Todgeweihte konnten nun fast normal leben.

Früher waren das Nobelkomitee und die Akademie am Karolinska Institut noch etwas flinker als heute. 1923 gab es den Preis für die Entdeckung von Insulin und die ersten Therapien am diabeteskranken Menschen, die erst im Jahr zuvor begonnen hatten.

In jenem Jahr zuvor, ganz zu dessen Anfang im Januar 1922, lag ein vollkommen abgemagerter 13-jähriger Junge in einem Bett des Toronto General Hospitals. Ein Großteil der Zeit war er bereits im diabetischen Koma.

Von Hundeversuchen zu Therapien am Menschen innerhalb von Wochen

Wenige Wochen zuvor war es in Toronto aber gelungen, Versuche des rumänischen Physiologen Nicalae Paulescu zu bestätigen. Der hatte mit diabetischen Hunden erstmals gezeigt, dass diese Flüssigkeit, die eine vermutete Substanz namens Insulin enthalten musste, bei diesen die Blutzuckerwerte deutlich verbesserte. Doch der erste Versuch, das Kind mit einer komplett neuen Therapie zu retten, scheiterte: Leonard Thompson hatte am 11. Januar eine Spritze mit einem aus tierischem Bauchspeicheldrüsen gewonnenem Extrakt bekommen. Aber er erlitt eine schwere allergische Reaktion.

Nach dem Rückschlag zurückgeschlagen

Doch nicht nur das mit dem Nobelpreis funktionierte damals anders als heute. Nicht nur, dass derartige Versuche am Menschen mit solchen Produkten – heute durch keine Ethikkommission eines Uni-Hospitals mehr kommen würden. Der Fehlversuch warf die Forschung auch nicht, wie heute wahrscheinlich, um Jahre zurück. Sondern nur um zwölf Tage. Beziehungsweise er brachte sie in diesen zwölf Tagen die entscheidenden Schritte voran.

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Heute vor 100 Jahren, am 23. Januar 1922, bekam Leonard zum zweiten mal Insulin. Diesmal war es ein viel reineres Produkt, für dessen Herstellung der Biochemiker James Collip in fast pausenloser Arbeit ein Verfahren entwickelt hatte. Wenige Stunden nach der Insulingabe zeigte Leonard diesmal nicht nur keinerlei allergische Reaktion, auch der Zucker war aus seinem Urin praktisch komplett verschwunden. Ab jetzt bekam der Junge regelmäßig das Präparat verabreicht. Das Kind, das wahrscheinlich innerhalb weniger Wochen gestorben wäre, erholte sich. Leonard lebte weitere 13 Jahre. Im Alter von 26 Jahren starb er an einer Lungenentzündung.

Von "todgeweiht" zu "fast ganz normal gelebt"

Andere frühe Patientinnen und Patienten wurden – auch wenn man dies erst Jahrzehnte später sicher wissen konnte – zu den ersten Beispielen für die revolutionären Veränderungen, die diese Therapie mit sich brachte: Menschen, die bis dahin todgeweiht waren, konnten unter Insulintherapie ein weitgehend normales Leben führen. Sie hatten eine ähnliche Lebenserwartung wie all die anderen, die nicht an jenem durch einen Autoimmunprozess ausgelösten Diabetes vom Typ 1 litten. Die erste US-Patientin etwa, die sich in Kanada behandeln ließ, hieß Elizabeth Hughes.

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Sie war die Tochter des damaligen Außenministers und etwa so alt wie Leonard Thompson. Doch sie lebte noch weitere 60 Jahre. Der erste in den USA behandelte Patient war der Kunststudent James Havens. Auch er lebte noch vier Jahrzehnte und wurde zu einem der wichtigsten Grafiker und Holzschnittkünstler der USA.

Früher vom Tier, heute von Bakterien

Die ersten therapeutisch eingesetzten Insuline stammten aus Bauchspeicheldrüsen von Hunden und Rindern. Bald kamen Schweine als Lieferanten hinzu. Seit den 1980er Jahren wird eine Form, die dem menschlichen Insulin gleicht, aus gentechnisch veränderten Bakterien gewonnen. Es gibt mittlerweile auch verschiedenste Varianten, etwa solche mit Langzeitwirkung. Und die Entwicklung geht weiter. Über einige der Zukunftsaussichten - aber auch Herausforderungen - informierten Mediziner der Deutschen Diabetes-Gesellschaft kürzlich.

Bei Typ-1-Diabetes bleibt Insulin das essentielle lebensrettende Medikament. Auch viele der Millionen Patienten mit Typ-2-Diabetes injizieren sich das Hormon unter die Haut, um ihre Blutzuckerspiegel zu kontrollieren.

Dicke Kinder erwünscht

Jenen Nobelpreis 1923 bekamen der Mediziner Frederick Banting und der Biochemiker John Macleod, die in Toronto die ersten Patienten behandelt hatten. Sie bekamen aber auch ein schlechtes Gewissen gegenüber Kollegen, die leer ausgingen. Macleod teilte daraufhin sein Preisgeld mit jenem James Collip, Banting mit seinem Assistenten Charles Best – dem dieser Job durch einen Münzwurf zugefallen war. Wie immer aber blieben wichtige Forscher außen vor, allen voran Paulescu, der die entscheidenden experimentellen Vorarbeiten geleistet hatte.

Banting blieb mit vielen Patienten in Kontakt. Ein Junge etwa, den er völlig abgemagert und sterbenskrank kennengelernt hatte, schrieb ihm ein paar Monate nach der ersten Injektion einen Brief. Es gehe ihm nun blendend, konnte Banting dort lesen, und er sei jetzt „ein richtig dicker Junge“.

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