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Wie lange sollten Geschäfte, wie diese Galerie in Frankfurt, noch geschlossen bleiben? Forschenden zufolge besser noch solange, bis die 7-Tage-Neuinfektionsinzidenz unter 10 pro 100.000 Einwohner liegt.

© Frank Rumpenhorst/dpa

Erst die 10er-Inzidenz eröffnet Perspektiven: Wer zu früh lockert, den bestraft das Virus

Wann der richtige Zeitpunkt für Lockerungen gekommen ist, hängt nicht allein an einer Zahl. Wichtiger ist, was nach einer frühen oder späten Öffnung folgt.

Die gute Nachricht zuerst: Die Zahl der täglich neu vom Sars-CoV-2-Virus befallenen Menschen geht zurück, auch die der an Covid-19 erkrankten.

Wenn das Tempo weiter so abnimmt wie in der vergangenen Woche, dann könnte der oft genannte Zielwert von insgesamt 50 Neuinfektionen innerhalb einer Woche pro 100.000 Einwohnern in ganz Deutschland nahezu punktgenau am 14. Februar erreicht werden – also an dem Tag, bis zu dem die jetzt gültigen Anti-Corona-Maßnahmen gelten.

Und nun die schlechte Nachricht: Die Corona-Fallzahlen gehen zwar zurück. Wenn sie aber weiterhin so langsam fallen wie während der vergangenen Tage, dann wird die 7-Tages-Inzidenz am 14. Februar immer noch bei etwa 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern liegen.

Ist 50 also ein guter 7-Tages-Inzidenzwert oder ein schlechter? Von der Antwort auf diese Frage durch die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten wird abhängen, was nach dem 14. Februar geschehen wird.

Die Antwort wird natürlich ganz entscheidend beeinflusst von dem Bewusstsein, was aus ihr jeweils folgen würde: Entweder eine Lockerung des Lockdowns - oder weiterhin geschlossene Kitas und Schulen, geschlossene Geschäfte, geschlossene Gaststätten, Kinos, Theater und so weiter.

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Schon aus der bloßen Vorstellung, welche Folgen die Fortführung des harten Lockdowns für alle Menschen im Land pädagogisch, ökonomisch, psychologisch und soziologisch hätte – und dies in einem Jahr mit Wahlen in gleich sechs Bundesländern und einer Bundestagswahl – ergibt sich, welche Antwort die verantwortlichen Politiker wohl gerne geben würden: 50 ist ein guter Wert; er rechtfertigt, dass nach zwei Monaten voller Entbehrungen, Einschränkungen und Opfer, die zu diesem Wert geführt haben, zumindest Kitas und Schulen wieder geöffnet werden können, und vielleicht sogar – mit den entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen – weitere Bereiche des öffentlichen gesellschaftlichen und kulturellen Lebens.

Um abschätzen zu können, wie sich die Lockerung oder sogar Beendigung verschiedener Maßnahmen auf die Entwicklung der Fallzahlen auswirken könnte, werden die Politiker wieder die mathematischen Modellierer der Pandemie befragen. Deren Aufgabe wäre deutlich leichter, wenn es tatsächlich so einfach wäre, wie es sich zum Beispiel die baden-württembergische Ministerin für Kultus, Jugend und Sport Susanne Eisenmann vorstellt: „Corona macht das Tempo, nicht wir“.

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Doch in Wahrheit spielt auch das Verhalten der Menschen eine gewichtige Rolle in den Szenarien, mit denen die Epidemiologen die Entwicklung der Pandemie mathematisch abzubilden versuchen. Erst aus dem Zusammenspiel zwischen dem Verhalten des Virus und dem Verhalten der Menschen ergibt sich, wie sich das Virus in der Bevölkerung verbreiten kann.

Das Verhalten des Virus ist mittlerweile ziemlich gut bekannt: Es fliegt in den Aerosolen oder auch größeren Tröpfchen der Atemluft aus einem menschlichen Rachenraum in den nächsten, der nahe genug gekommen ist. Die Erfahrung zeigte, dass in den Anfangszeiten der Pandemie die Zahl und Art der Begegnungen der Menschen im Alltags-Deutschland so beschaffen war, dass als durchschnittliches Ergebnis jeder vom Sars-CoV-2-Virus befallene Mensch drei oder vier andere Menschen ansteckte.

[Lesen Sie bei Tagesspiegel Plus: Susanne Eisenmann will Ministerpräsidentin werden: Der verunglückte Wahlkampfstart der Anti-Merkel.]

Die aktuellen Corona-Maßnahmen vermindern natürlich die Zahl der Begegnungen. Und die AHA-Regeln senken dabei die Wahrscheinlichkeit einer Infektion. Wie die Fallzahlen im Rückblick zeigen, stecken deshalb aktuell jeweils zehn infektiöse Menschen in Deutschland nur noch acht oder neun andere Menschen an.

Die meisten Epidemiologen hatten jedoch einen stärkeren Rückgang erwartet. Möglicherweise macht sich bereits die höhere Ansteckungsfähigkeit der neuen Virus-Mutanten bemerkbar.

Mit Sicherheit aber haben sich auch die Menschen wieder in die Berechnungen der Pandemie-Modellierer eingemischt: Vielleicht hat ihre Angst vor dem Virus abgenommen? Oder sie sind der Corona-Maßnahmen überdrüssig geworden, nutzen kreativ deren Spielräume, haben kurzfristig ihr Verhalten aufgrund von Medienberichten geändert, und tausend Gründe mehr.

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Was auch immer das Verhalten der Menschen beeinflussen mag, warum auch immer sie es verändern oder auch nicht: Menschen sind im Wortsinn unberechenbar. Und deshalb scheuen die Epidemiologen davor zurück, aus ihren Computermodellen konkrete Prognosen abzugeben, wie sich die Corona-Fallzahlen entwickeln werden. Sie liefern vielmehr verschiedene Projektionen in die Zukunft, die sich aus unterschiedlichen Szenarien ergeben.

Welches dieser Szenarien die Realität aber tatsächlich am besten beschreibt – einschließlich des rätselvollen Verhaltens der Menschen – ist nur schwer vorherzusagen.

Diese Unsicherheit aller Projektionen der Pandemie aus der Gegenwart in die Zukunft hinaus muss man in Kauf nehmen, wenn man abschätzen will, welche Folgen eine Lockerung des Lockdowns nach dem 14. Februar haben könnte. Und dies ausgehend von einem nach wie vor hohen Infektionsgeschehen mit einer voraussichtlichen 7-Tages-Inzidenz an diesem Tag in der Größenordnung von 50.

Lockerungen bei 50er-Inzidenz sind sehr riskant

Dieser Wert erscheint zwar relativ gering – aber nur im Vergleich zu den deutlich höheren Werten der vergangenen Tage. Für sich allein genommen ist er jedoch alles andere als niedrig. Konkret bedeutet er rund 6000 Neuinfektionen pro Tag in Deutschland. Zur Erinnerung: Dies war am 16. März 2020 während der Frühjahrswelle der Pandemie im vergangenen Jahr der Höchststand der täglichen Neuinfektionen. Knapp eine Woche später beschlossen mit dieser Zahl als Begründung Bundesregierung und Länder den ersten harten Lockdown. Und nun wird also genau diese hohe Zahl von 6000 täglichen Neuinfektionen zum Anlass genommen, allen Ernstes darüber nachzudenken, ob man den aktuellen Lockdown lockern könnte!

6000 Neuinfektionen jeden Tag: Bei dieser Zahl können die Gesundheitsämter bei weitem noch nicht alle Infektionsketten nachverfolgen und mit Quarantänemaßnahmen unterbrechen. Und noch beängstigender: Falls als Folge von Lockerungen der Corona-Maßnahmen die Fallzahlen wieder steigen würden, dann würde dieser Anstieg von der bereits hohen Basis von 6000 täglichen Neuinfektionen aus starten.

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Wenn dann auch noch ein zunehmender Anteil neuer Virus-Mutanten mit höherer Infektionsrate den exponentiellen Anstieg der Fallzahlen zusätzlich beschleunigen würde, würden die Infektionszahlen schnell in katastrophale Höhen schnellen. Der nächste harte Lockdown wäre nur eine Frage der Zeit. Denn sonst müsste das Robert-Koch-Institut schon in wenigen Wochen täglich hunderttausende von Neuinfektionen vermelden – eine Zahl, die kein Gesundheitssystem mehr verkraften würde.

Dies ist kein unwahrscheinliches Worst-Case-Szenario. Sondern dies würde bereits eintreten, wenn als Folge von Lockdown-Lockerungen das Infektionsgeschehen wieder so ansteigen würde, dass zehn infizierte Menschen jeweils 13 oder 14 andere Menschen anstecken. Ein solcher moderater R-Wert von 1,3 bis 1,4 wurde im bisherigen Verlauf der Corona-Pandemie in Deutschland schon oft erreicht – und zwar noch ohne neue Virus-Mutanten.

Das Risiko ist also hoch: Wer zu früh lockert, den bestraft das Virus.

Wie lange müssten wir dagegen die Strapazen des gegenwärtigen harten Lockdowns noch aushalten, um endlich wieder einen Zustand mit erträglichen Fallzahlen zu erreichen?

Die 10er-Inzidenz ist binnen Wochen erreichbar

In einem Gespräch mit dem Tagessspiegel erinnerte Viola Priesemann vom Göttinger Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation an die niedrigen Fallzahlen des vergangenen Sommers: „Damals lag die 7-Tages-Inzidenz pro 100.000 Einwohnern monatelang bei fünf oder sogar noch darunter. Dies entspricht einer Zahl von einigen wenig hundert Neuinfektionen pro Tag in Deutschland", sagt die Physikerin. "In dieser Situation schafften es die Gesundheitsämter nahezu ausnahmslos, die Kontakte der infizierten Menschen nachzuverfolgen und die von ihnen ausgehenden Ansteckungsketten zu unterbrechen.“

Aus dieser Erfahrung heraus fordert eine Gruppe von Forschenden um die Virologin Melanie Brinkmann, die harten Lockdown-Maßnahmen erst dann zu beenden, wenn ein Zielwert von zehn Neuinfektionen pro Woche und pro 100.000 Einwohnern unterschritten wird. „In Regionen, in denen dies erreicht wird, wir nennen sie „Grüne Zonen“, können dann erste Lockerungen stattfinden“, erläuterte Priesemann die auch von ihr unterstützte Forderung.   

Ist diese „NO-Covid“-Strategie utopisch? Würde eine 7-Tages-Inzidenz von zehn denn nicht erst am Sankt-Nimmerleins-Tag erreicht?

Keinesfalls: Wenn der aktuell harte Lockdown über den 14. Februar hinaus aufrecht erhalten bliebe, und wenn die Menschen dessen Maßnahmen weiterhin ähnlich wie bisher befolgen, wird der Abwärtstrend der Fallzahlen weiter anhalten. Wünschenswert, wenn auch schwer zu erreichen wäre es dabei, wenn jeweils zehn infizierte Menschen nur noch sieben weitere Menschen anstecken würden, was einer Reproduktionszahl von 0,7 entspricht.

Regionen, die am 14. Februar eine 7-Tages-Inzidenz von 50 aufweisen, würden dann die angestrebte 10er-Inzidenz spätestens drei Wochen später erreichen. Bei R = 0,8, einem Wert, der seit Weihnachten schon einige Male auftrat, wäre dieses Ziel in rund einem Monat erreicht. Und auch bei R = 0,9 noch, häufig unterschritten seit Mitte Dezember, könnte man die entsprechende Region immerhin Mitte März zur Grünen Zone erklären.

In Grünen Zonen könnten wieder mehr Begegnungen von Menschen stattfinden, ohne dass die Fallzahlen unkontrolliert ansteigen würden. Denn die Gesundheitsämter wären wieder in der Lage, nahezu allen dabei auftretenden neuen Infektionsketten nachzugehen und sie zu unterbrechen. Das öffentliche Leben könnte also wenigstens wieder zurückkehren zu einem Zustand wie im vergangenen Sommer. Das Virus wäre nicht besiegt, aber wenigstens unter Kontrolle.

Und selbst, wenn es erneut außer Kontrolle geriete – zum Beispiel wegen neuer Mutanten mit höherer Ansteckungsrate – hätte eine 7-Tages-Inzidenz von zehn oder darunter immer noch einen großen Vorteil: Der erneute Anstieg der Neuinfektionen würde von einer niederen Startbasis ausgehen. Je nachdem, wie schnell die Fallzahlen wieder wachsen würden, würde es mehrere Wochen dauern, bis auch nur wieder eine 50-er Inzidenz erreicht wäre. Und irgendwann werden hoffentlich doch mal ausreichend viele Impfungen dem Virus den Garaus bereiten.

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