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Erdbeben

© Tsp/Schill

Erdbebengebiete: Erde unter Spannung

Forscher erstellen digitale Weltkarte der Kräfte im Erdinneren: Sie zeigt, wo die Gefahr für schwere Beben am größten ist.

Das Erdbeben, das am gestrigen Mittwoch den Südwesten Pakistans erschüttert hat, traf die Menschen völlig überraschend. Auch nach jahrzehntelanger Forschung können Geowissenschaftler nicht voraussagen, wann ein Beben eintritt. Aber sie können relativ sicher sagen, wo mit derartigen Ereignissen gerechnet werden muss: überall dort, wo die Gesteine zum Zerreißen gespannt sind.

Welche Gebiete auf der Erde gefährdet sind, zeigt die „World Stress Map“, was so viel bedeutet wie „Weltkarte der Spannungen im Untergrund“. Dabei handelt es sich allerdings eher um eine Datenbank. Denn die Informationen sind so umfangreich, dass sie in einer zweidimensionalen Karte gar nicht dargestellt werden können. Die gespeicherten Messwerte geben an, wie groß die Spannung in bestimmten Teilen der Erdkruste ist und in welche Richtungen die Kräfte wirken, beispielsweise nach oben oder zur Seite, nach Norden oder Westen. „Diese Daten zeigen nicht nur, wo die Gefahr für Erdbeben besonders groß ist, sondern helfen beispielsweise auch dabei, Erdölbohrungen an der richtigen Stelle zu platzieren“, sagt Friedemann Wenzel. Er leitete das World-Stress Map-Projekt in den vergangenen sechs Jahren an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, bevor die Koordination kürzlich dem Geoforschungszentrum Potsdam (GFZ) übertragen wurde.

Unter unseren Füßen ist es meist ruhig – doch im Untergrund zerren gewaltige Kräfte. Ursache dafür ist vor allem die Plattentektonik. Wenn sich die einzelnen Kontinente bewegen, gleiten sie nicht reibungslos aneinander vorbei, sondern verhaken sich. Getrieben von Kräften im Erdinneren werden die Platten jedoch immer weiter geschoben. An den festgefahrenen Grenzen der Kontinente ist die Bewegung nicht messbar – stattdessen steigt dort die Spannung und staut sich, wie in einem zusammengedrückten Ball kurz vorm Zerplatzen. Wird sie zu groß, zerreißt das Gestein, und die entstehenden Hälften werden um einige Meter gegeneinander verschoben. Die Erde bebt.

„Unsere Daten zeigen, dass die Spannungen an den Plattenrändern am größten sind“, sagt der Geologe Wenzel. Demzufolge sei dort das Bebenrisiko besonders hoch. Doch auch innerhalb der Kontinente können die Gesteinspakete „vorgespannt“ sein, wie Fachleute sagen. „So drücken zum Beispiel die Alpen aufgrund ihrer großen Masse den Untergrund in ganz Süddeutschland in Richtung Norden zusammen“, berichtet Oliver Heidbach, der jetzt für die World Stress Map verantwortlich ist. Dann genügen zuweilen kleine Veränderungen im Spannungsgefüge, um Beben auszulösen, sagt der Geophysiker und erinnert an die Geothermie-Bohrung in Basel, wo vor zwei Jahren nach dem Einpressen von Wasser in den Untergrund die Erde zitterte.

Damit es so weit kommt, muss eine enorme Spannung auf das Gestein wirken. „30 bis 40 Megapascal sind schon erforderlich“, sagt Heidbach. Diese Werte entsprechen dem Druck in drei bis vier Kilometer Wassertiefe.

In der Spannungsweltkarte sind mittlerweile Daten von rund 14 000 Messpunkten enthalten. Um die Richtung der maximalen Spannung festzustellen, gibt es mehrere Möglichkeiten: Bohrlöcher werden mit Kameras begutachtet, um zu sehen, an welcher Seite der Wand Gestein herausgebrochen ist. Oder die Forscher rekonstruieren aus Erdbebendaten, in welche Richtung die Schichten gegeneinander verschoben wurden.

Die Datenbank ist über das Internet für jeden abrufbar. „Auf unserer Homepage kann man sich sogar ein Programm herunterladen, um die Messwerte in Google Earth anzeigen zu lassen“, sagt Heidbach. Dieses werde nicht nur von Schülern und Studenten genutzt, sondern auch von der Erdölindustrie: Die Ingenieure wollen wissen, ob eine geplante Bohrung möglicherweise wieder zugedrückt wird – und damit einige 100 000 Euro verloren gehen könnten.

Doch nicht nur bei der Suche nach Öl sind die Spannungsdaten gefragt. Sie können auch genutzt werden, um mögliche Schäden durch Erdbeben besser abzuschätzen. Heidbach und sein Kollege Tobias Hergert von der Universität Karlsruhe haben ein Modell entwickelt, das die Wucht des drohenden Erdbebens in der Westtürkei vorhersagt. Dass es irgendwann in der Nähe von Istanbul krachen wird, gilt für Geoforscher als ausgemacht. Schuld daran ist eine Miniplatte im Süden des Landes, die mit rund zwei Zentimetern pro Jahr in Richtung Westen wandert. Diese Bewegung gerät immer wieder ins Stocken – und die angestaute Energie entlädt sich in Erdbeben. Das letzte erschütterte 1999 die Stadt Izmit und Umgebung. Es hatte eine Stärke von 7,4 und forderte rund 15 000 Menschenleben. Bei dem Ereignis wurde zwar die Spannung um Izmit gelöst, doch dafür wurde diese westlich von der Stadt noch größer. Das nächste Erdbeben wird sehr wahrscheinlich in der Marmarasee, einem Teil des Mittelmeers südlich von Istanbul, auftreten.

Wie schwer die Zwölf-Millionen-Metropole getroffen werden könnte, kann noch keiner sagen. Heidbach und Hergert konnten jetzt zumindest einen ersten Hinweis liefern. Ihren Berechnungen zufolge hätte das Beben, wenn es innerhalb der nächsten Jahre einträfe, eine Magnitude von 7,2 und würde die Gesteine um mehr als zwei Meter gegeneinander verschieben. „Diese Informationen nützen den Istanbulern nur wenig, denn auch wir können nicht sagen, wann das Beben kommt“, sagt Heidbach. „Aber die Daten können andere Forscher nutzen, um in ihren Computermodellen Gebäudeschäden zu simulieren.“ Damit wären Katastrophenschützer besser auf den Ernstfall vorbereitet.Seite 36

Weitere Informationen auf Englisch:

www.world-stress-map.org

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