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Eigentlich waren die Pocken schon fast besiegt, als sich 1978 in Birmingham zwei Frauen infizierten.

© Lisa Tomkins/GettyImages

Epidemien: Der rätselhafte Tod der Janet Parker

Vor 40 Jahren gab es die letzten Pocken-Fälle. Eine Kommission legte sich schnell auf Ursachen fest. Laut neuer Recherchen hatte sie wahrscheinlich Unrecht.

Vor 40 Jahren, am 21. September 1978, liegt eine ältere Dame auf ihrem Bett in einem Krankenhaus-Einzelzimmer. Einer der Ärzte, die sich in den letzten Tagen um sie gekümmert hatten, bringt ihr eine eigentlich gute Nachricht: Sie ist genesen, am nächsten Tag würde sie entlassen werden. Es ist ein historischer Moment, aber es ist ein bitterer für jene Hilda Witcomb aus Birmingham.

Die letzten Tage der Pocken

Sie war – wie man rückblickend weiß – die bis heute letzte Person weltweit, die an Pocken erkrankte. Doch die letzte Person, die der Krankheit erlegen war, kaum zwei Wochen zuvor, war ihre Tochter gewesen. Auch ihren Ehemann hatte sie kurz zuvor verloren. Frederick Witcomb, 71, war am Sterbebett seiner Tochter zusammengebrochen und kurz darauf gestorben.

In Birmingham, Großbritanniens zweitgrößter Stadt, gehört die Zeit zwischen August und Oktober 1978 noch immer zur kollektiven Erinnerung. Der Mikrobiologe Mark Pallen hat darüber im Selbstverlag ein Buch geschrieben, „The Last Days of Smallpox“. Janet und ihr Vater waren nicht die einzigen Todesopfer.

Sechs Wochen zuvor: Am 11. August bekommt Janet Parker, eine 40-jährige Fotografin am Anatomie-Department der Universität, plötzlich heftige Kopf- und Muskelschmerzen. Als Fieber und juckender Ausschlag hinzukommen, konsultiert sie ihren Hausarzt. Dieser diagnostiziert Windpocken. Aber die erhabenen, roten Flecken entwickeln sich in wenigen Tagen über Bläschen zu Pusteln und werden mehr. Janet Parker erkrankt schwer, mit hohem Fieber. Am 24. August wird sie in eine Infektionsabteilung aufgenommen. Ihre Mutter erzählt den Ärzten, Janet habe als Kind Windpocken gehabt. Erneute Erkrankungen an diesem Virus sind zwar möglich, doch sie äußern sich eigentlich immer als Gürtelrose: einem sehr schmerzhaften, sich von der Wirbelsäule entlang der infizierten Nervenbahnen gürtelförmig ausbreitendem Ausschlag. Doch die Ärzte gehen offenbar davon aus, dass Parkers Mutter sich nicht richtig erinnert und bleiben bei ihrer Diagnose.

Die Pocken, die echten, zu denen das Krankheitsbild passt und eine der in der Menschheitsgeschichte verheerendsten Infektionskrankheiten überhaupt - scheinen jedenfalls zu fern. Durch akribische Fallsuche und massive Impfprogramme – der Mensch ist der einzige Wirt dieser Viren – waren die Pocken weltweit praktisch ausgerottet. Das galt für beide Varianten: Variola major und die etwas weniger gefährliche, aber trotzdem manchmal tödlich verlaufende Variola minor. Die seit 1966 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) angestrebte globale Ausrottung der Pocken war in ihrer Endphase. Die bis dahin letzte Erkrankung an V. major war 1975 in Bangladesch beobachtet worden, der letzte Fall von V. minor 1977 in Somalia. Die letzten Erkrankungen in Deutschland hatte es 1970 in Meschede gegeben.

Pocken? Die Diagnose gilt schon damals als praktisch unmöglich

Janet war geimpft und auch seit Jahren nicht mehr im Ausland gewesen. Doch das Krankheitsbild verunsichert die Ärzte. Ein Tropenmediziner entschließt sich am Abend jenes 24. August, ihr Bläschen-Flüssigkeit abzunehmen und bringt sie dem Virologen Henry Bedson zur elektronenmikroskopischen Schnelldiagnostik. Am Bildschirm zeigen sich „Quaderviren“. Größe und Form sind typisch für Variola, aber auch für das Impfvirus Vaccinia und die meist harmlosen Kuhpocken.

Bedson erfährt, dass die Probe von der Fotografin aus der Anatomie stammt, direkt über dem Pockenlabor. Ein Schock.

Auch der Arzt Alasdair Geddes stellt, praktisch zeitgleich, die klinische Diagnose: Variola major. Aus dem, was als ausgeschlossen gegolten hatte, ist plötzlich Sicherheit geworden: Der Pocken-Alarmplan rollt am selben Abend an: Janet wird in eine Isolierstation überführt. Ihre Kontakte – Verwandtschaft, Kollegen, Pflegepersonal und Ärzte – werden ermittelt. Die 75 Nahkontakte werden am 25. August unter Quarantäne gestellt. Sie bekommen, sofern ihre Impfung mehr als fünf Jahre zurückliegt, erneut eine Dosis. Kontaktpersonen werden an ihren vermuteten Urlaubsorten mit Plakaten gesucht. Insgesamt werden 328 Personen unter Quarantäne gestellt und mehr als 3400 werden per Impflanzette vakziniert.

Janet Parker geht es derweil immer schlechter. Doch das erste Todesopfer dieses Dramas wird jemand anderes sein.

Henry Bedson, der Mann, dessen Elektronenmikroskop Janets Viren identifiziert hatte, leitet seit 1964 die Medizinische Mikrobiologie an der Universität – und das Pockenlabor. Es ist damals weltweit eines von nur noch 13 Laboratorien, die mit den Viren arbeiten, streng überwacht von WHO und staatlichen Stellen.

Der unklare Weg des Virus

Bedson hatte im Juli 1978 Isolate von Variola major aus Pakistan untersucht – in seinem kleinen, abgetrennten „Smallpox Laboratory“ unter einer regelgerecht entlüfteten Sicherheits-Laborbank. Zugang hatten hier nur die vier Mitglieder der Pockenarbeitsgruppe. Die WHO hatte die Sicherheit des Labors noch im Mai bestätigt. Untersuchungen zeigen, dass Janet Parker an einem in Bedsons Labor untersuchten Virenstamm erkrankt war. Sie hatte ein Stockwerk darüber gearbeitet. Wie konnte sie sich mit Pocken infizieren?

Eine Untersuchungsgruppe der Uni wird eingesetzt – und sofort wieder aufgelöst. Ein Gremium des Gesundheitsministeriums übernimmt, die „Shooter-Kommission“. Die Hypothesen beider sind gleich: Viren hätten über einen eventuell möglichen Luftzug aus dem Hochsicherheitslabor in die vorgeschalteten Räume gelangen können. Von dort aus wäre es nicht unmöglich gewesen, dass sie durch Öffnungen in einem Service-Schacht Janets Arbeitsplatz erreichten.

Bedson wird von seinen Aufgaben entbunden und zuhause unter Quarantäne gestellt, sein Labor geschlossen. Die Medien belagern den Mann, der es als seine Lebensaufgabe angesehen hatte, zur Ausrottung der Pocken beizutragen. Auch Gerüchte verbreiten sich, Bedson habe einen genetisch manipulierten, impfstoffresistenten Stamm geschaffen.

Der vorverurteilte Virologe

Er ist isoliert, die Öffentlichkeit ist erbarmungslos. Der 49-jährige Bedson ist der „Evil Scientist“. Allein die Tatsache, dass er mit den Viren überhaupt arbeitete und kürzlich einen Antrag genehmigt bekommen hatte, das für eine gewisse Zeit weiter tun zu dürfen, reicht, ihn vorzuverurteilen. Er ist bald, wie Pallen schreibt, komplett entmutigt. Am 1. September unternimmt er einen Selbstmordversuch. Seine Frau findet ihn mit durchschnittener Kehle. Er wird notoperiert, kommt auf die Intensivstation, aber bleibt ohne Bewusstsein. Bald ist keine Hirnaktivität mehr messbar. Am 6. September 1978 wird Henry Bedson für tot erklärt.

Janet Parker lebt zu dieser Zeit noch, leidet aber jeden Tag mehr: Die zunächst einzeln stehenden Bläschen und Pusteln beginnen flächig zusammen zu fließen, das Gewebe löst sich förmlich auf, Lungenentzündung, Durchfall, Nieren-Probleme und Wundliegen kommen hinzu. Sie verliert das Bewusstsein. Am 11. September 1978 stirbt sie, isoliert in einer Pockenklinik in Catherine-de-Barnes südwestlich von Birmingham.

Sicherheitsmängel im Labor

Das Shooter-Gremium legt sich auf die Luftzug-Hypothese fest. Es konstatiert auch erhebliche Sicherheitsmängel: kein Umkleideraum, keine Dusche, keine doppelseitigen Sterilisatoren in der Wand zum Hochsicherheitslabor. Und bei seiner Aufgabenfülle könne Bedson seine Arbeitsgruppe kaum angemessen überwacht haben. Auf der Basis dieser Vorwürfe strengt die Gewerkschaft Leitender Angestellter und Techniker für ihr verstorbenes Mitglied Janet Parker einen Prozess gegen die Universität an.

Doch hier wird bald klar: Bedsons Studien waren unverzichtbar gewesen. Er selbst hatte einen exzellenten Ruf als Virologe und als gewissenhafter Chef. Und eine Übertragung des Virus über die Luft bis hin zum Arbeitsplatz von Janet Parker, zumal aus der Zellkultur, hielten Experten wegen des extremen Verdünnungsfaktors für höchst unwahrscheinlich. Wäre sie relevant, dann hätte die globale Ausrottung nicht gelingen können und in Birmingham hätte es weitere Opfer gegeben.

Brian Escott-Cox, der Anwalt, der seinerzeit den Fall für die Universität gewann, hat sich in diesem Jahr nach langer Zeit wieder zu dem Thema geäußert. Der Birmingham Mail sagte er, sein Nachweis, dass Viren mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit nicht über den Luftweg zu Janet gelangt sein konnten, bedeute aber, dass „Janet Parker ihrerseits irgendwie zu den Pocken gelangt sein muss“.

Fatale Freundschaftsdienste?

Aber es bleibt bei Hypothesen, sagt auch er. Janet Parker war zuletzt 1966 geimpft worden. Nach zwölf Jahren hatte sie keine ausreichende Pocken-Immunität mehr. Pallens Recherchen für sein Buch ergaben, dass sie im Sommer 1978 entgegen den Bestimmungen mehrfach Mitarbeiter „unten“ in der Mikrobiologie, auch im Pockenlabor, besucht hatte. Als Fotografin bekam sie Filme und andere Ausrüstung zu Vorzugspreisen. Sie besorgte derlei offenbar öfters für Freunde und Bekannte, die sie an der Uni hatte, besonders vor Beginn der Urlaubszeit. Und sie brachte ihnen die Sachen vorbei. Hätte sie im Pockenlabor bei einem Besuch etwa eine kontaminierte Oberfläche mit dem Finger berührt und sich danach ins Auge gefasst, eine Infektion wäre möglich gewesen. Die Haut ihrer Hände könnte in der Dunkelkammer durch ätzende Flüssigkeiten auch ihre Barriere-Funktion verloren haben. Virus, aus dem Labor verschleppt oder schlicht dort beim Urlaubs-Abschieds-Händeschütteln übertragen, könnte zur Infektion über die geschädigte Haut geführt haben.

Am 9. Dezember 1979 konstatierte eine Expertenkommission der WHO, die Pocken seien „weltweit ausgerottet“. Nur noch in zwei international überwachten Laboratorien existieren noch letzte Proben der Viren – in Bethesda, USA, und Koltsovo, Russland, wo weiterhin Laborforschung an Pockenviren betrieben wird.

Noch heute: Vorrat an Impfdosen für die ganze Bevölkerung

Die Impf-Pflicht wurde 1983 in beiden Teilen Deutschlands aufgehoben. Die Bevölkerung ist somit heute nicht mehr immun und die Viren könnten sich schnell ausbreiten – etwa wenn trotz aller Sorgfalt in alten Kühltruhen „vergessene“ Pockenproben oder Reste früherer Biowaffen-Programme in Umlauf geraten. Aber auch mit Gentechnik und synthetischer Biologie wäre es grundsätzlich möglich, neue Pockenviren zu konstruieren. Und wann immer Menschen involviert sind, lässt sich das Risiko einer Laborinfektion oder von Bioterrorismus nicht völlig eliminieren. Wie ein Ausbruch aussehen würde, ist schwer vorherzusagen. Die globale Mobilität hat zugenommen, und damit auch die Gefahr der Langstrecken-Verschleppung von Erregern. Diesen dazugekommenen Risiken stehen allerdings unter anderem auch bessere Möglichkeiten der Kommunikation gegenüber. Und nach wie vor hält die Bundesregierung Impfdosen für die gesamte Bevölkerung vor. Auch einen Impfpflicht wieder einzuführen, wäre im Ausbruchsfall gesetzlich möglich.

--- Hans Gelderblom ist pensionierter Virologe. In den siebziger Jahren war er selbst noch an der Überprüfung der letzten Pocken-Verdachtsfälle in Deutschland beteiligt. Das Buch „The Last Days of Smallpox“ von Mark Pallen ist im Selbstverlag erschienen und ist unter anderem über Online-Händler erhältlich. Es kostet 14,68 Euro.

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