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Kolumne: Dr. Wewetzer: Ein Kochbuch voller Krebs

Hartmut Wewetzer fahndet nach guten Nachrichten in der Medizin. Diesmal: Lebensmittel und Tumorrisiken.

Lebensmittel sind zu einem brisanten Thema geworden. Ganz früher aß man, um (hoffentlich) satt zu werden. Als das Hungerproblem gelöst war, kam der Genuss hinzu. Und heute? Essen soll gesund sein, vielleicht sogar heilen. Kehrseite dieser Hoffnung ist die Furcht, dass die Nahrung krank macht. Die Packungen von Fertignahrungsmitteln, von der Tiefkühlpizza über die Dosensuppe bis zu den Frühstücksflocken, gleichen dicht bedruckten Beipackzetteln. Und die Forschung über Nutzen und Risiko der Nahrungsbestandteile ist schier unüberschaubar geworden.

Zwei amerikanische Forscher haben sich nicht entmutigen lassen und nun einmal eine Schneise durch den Wust der Fachliteratur geschlagen – mit überraschendem Ergebnis. Jonathan Schoenfeld von der Harvard-Universität und John Ioannidis von der Universität Stanford nahmen sich das Bostoner Schulkochbuch von 1896 vor und wählten 50 verbreitete Zutaten aus zufällig ausgesuchten Rezepten aus. Dann durchsuchten sie die Datenbank Pubmed nach Untersuchungen, in denen die Lebensmittel mit Krebserkrankungen in Verbindung gebracht wurden. Und tatsächlich fanden sich bei 40 der 50 Zutaten, also bei 80 Prozent, entsprechende Studien. Meist berichteten diese über ein erhöhtes oder verringertes Tumorrisiko durch das Nahrungsmittel. Darunter waren Mehl, Kaffee, Butter, Eier, Milch, Zwiebeln, Brot, Zucker, Salz, Oliven, Käse, Orangen, Tee, Erbsen, Wein, Kartoffeln, Rindfleisch ...

Diese Aufzählung klingt absurd, legt sie doch nahe, dass unser Essen in zwei Kategorien zerfällt. In der einen sind Lebensmittel, die das Krebsrisiko erhöhen und in der anderen jene, die es senken. Da könnte man glatt verrückt werden. Muss man aber nicht. Denn als die Forscher einen zweiten Blick auf die an die 300 Studien warfen, stellten sie fest, dass vor allem Einzeluntersuchungen besonders deutliche, häufig gegensätzliche Effekte zeigten.

Wurden dagegen ähnliche Studien in „Metastudien“ integriert, schwächte sich die vermeintlich krebserzeugende oder -senkende Wirkung ab. Mehr noch: Fassten die Wissenschaftler alle Übersichtsarbeiten zusammen, löste sich das Problem scheinbar in nichts auf. Mit den Zutaten des Boston Cooking-School Cook Book wurde das Tumorrisiko weder erhöht noch gesenkt.

Dementsprechend hart gehen die Forscher mit Kollegen ins Gericht, die gern jeden Lebensmittel-Krebsverdacht (oder Anti-Krebseffekt) in die Öffentlichkeit hinausposaunen. „Die große Mehrheit dieser Behauptungen fußt nur auf schwachen statistischen Hinweisen“, schreiben Schoenfeld und Ioannidis im Fachblatt „American Journal of Clinical Nutrition“. Ausgenommen von ihrem Beinah-Freispruch ist Alkohol, der in höheren Dosen das Tumorrisiko erhöht. Und natürlich ist die Studie kein Freibrief, nun hemmungslos zu schlemmen und alle Grundsätze gesunder Ernährung über Bord zu werfen. Aber ein bisschen gelassener darf man sein, wenn die nächste Panikmeldung über ein Krebsrisiko durch das xy-Lebensmittel über den Äther geht.

Unser Kolumnist leitet das Wissenschaftsressort des Tagesspiegel. Haben Sie eine Frage zu seiner guten Nachricht? Bitte an: sonntag@tagesspiegel.de

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