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Auch imponierende Werke menschlicher Schaffenskraft aus Sand stürzen unweigerlich ein, wenn ihnen entzogen wird, was sie zusammenhält.

© 'Hello I'm Nik' on Unsplash

Die Sandburg-Gleichung: Physiker bestätigen und widerlegen Lord Kelvin

Im ganz Kleinen testeten ein Nobelpreisträger und sein Team die Kelvin-Gleichung, die auch den inneren Zusammenhalt von Sandburgen beschreibt.

Mit Sandburgen haben sich schon viele Menschen auf unterschiedlichen Ebenen auseinandergesetzt: auf der praktischen hat wahrscheinlich der überwiegende Anteil aller Besuchenden von Sandstränden und Sandkästen seine Erfahrungen gesammelt.

Auf künstlerischer Ebene beklagte der US-amerikanische Musiker Jimi Hendrix in seinem gleichnamigen Stück, dass „Castles made of sand“ irgendwann und unausweichlich ins Meer rutschen. Und physikalisch wurde schon früh begründet, warum die Gebilde aus winzigen, unregelmäßig geformten Siliziumdioxid-Brocken, der geläufigsten Form des Sandkorns aus Quarz, überhaupt zunächst zusammenhalten und überkindshoch gebaut werden können.

Die Erklärung beruht auf der Kelvin-Gleichung, 1871 veröffentlicht von dem britischen Physiker Lord Kelvin. Das Problem damit ist, dass die Erklärung für den makroskopischen Raum aufgestellt wurde, also für Dinge, die sich mit dem bloßen Auge beobachten lassen.

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Sandkörner liegen bereits in der Nähe der unteren Grenze dessen, und was sich zwischen ihnen abspielt, in den Fugen des Mauerwerks der Sandburg, sollte sich dem mathematischen Zusammenhang entziehen. Tut es aber nicht.

Schöpfung und Zerstörung

In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Nature“ berichtet ein Team um Qian Yang und den Physik-Nobelpreisträger Andre Geim, beide tätig an der University of Manchester, dass sich der Geltungsbereich der Kelvin-Gleichung auch auf das ganz Kleine erstreckt, bis hinunter zur Größe von Atomen.

Was hält nun die Sandburg, Korn auf Korn, zusammen? Zur beachtlichen Schöpfungskraft der Erbauenden kommt ihre ständige Bereitschaft zu Ausbesserungsarbeiten. Außerdem häufiger auch stabilisierende und dekorative Zweige, Blätter, Muschelschalen oder andere Materialien. Doch die entscheidende Zutat ist Wasser, wenn auch in geringer Menge.

Die Kelvin-Gleichung kann benutzt werden um ein Phänomen zu erklären, das als Kapillarkondensation bezeichnet wird. In engen Räumen, etwa zwischen den Sandkörnern, aber auch in extrem dünnen Röhren, Kapillaren, kondensiert Wasserdampf aus der Luft zu flüssigem Wasser. Diese extrem dünnen Schichten flüssigen Wassers zwischen den Sandkörnern, nur wenige Lagen von Wassermolekülen stark, halten sie mit ihrer Oberflächenspannung zusammen.

Jeder Burgbauende weiß: Ein bisschen Wasser gehört dazu, es darf aber auch nicht zu viel sein. Es ist bekannt welche Schäden Wellen anrichten können, aber hier wirkt eine andere Zerstörungskraft: Die Kapillarbrücken genannten Verbindungen zwischen den Sandkörnern bestehen nur, wenn die Zwischenräume klein sind. Aus dem gleichen Grund ist es auch wichtig, die Burgmauern gut festzuklopfen. Werden die Brücken zu groß und verbinden sich miteinander, weil zu viel Wasser hinzugefügt wird, lässt die Wirkung der Oberflächenspannung nach.

Superglattes Material

In ihrer Studie untersuchten Yang und Geim, ob das extrem kleinräumige Phänomen mit der Kelvin-Gleichung erklärt werden kann, obwohl sie eigentlich nicht recht dazu passen will. Die Gleichung beschreibt Vorgänge an gekrümmten Oberflächen. Bei einer nur wenige Moleküle starken Schicht ist eine Krümmung aber schwer auszumachen.

Es wurde aber bereits gezeigt, dass sie dennoch für zehn Nanometer starke Wasserschichten (also zehn Milliardstelmeter dünn) gute Ergebnisse liefert. Damit Kapillarkondensation aber unter normalen Sandkastenbedingungen – milder Temperatur, 30 bis 50 Prozent Luftfeuchte – auftreten kann, dürfen die Schichten nur etwa einen Nanometer stark sein. Zum Vergleich: Ein Wassermolekül misst etwa 0,3 Nanometer.

Der Zusammenhang mit dem Zusammenhalt war in Experimenten bislang schwer nachzuweisen, da aufgrund der Rauheit von Materialien so kleine Zwischenräume kaum herzustellen waren. Das Team um Yang und Geim nutzte auf atomarer Ebene glatte Kristalle aus Glimmer und Graphit, zwischen die sie ebenfalls extrem glatte Lagen von Graphen brachten.

Graphen ist ein Netz aus Kohlenstoffatomen, das sechseckige Maschen hat. Geim ist Experte für das Material, ihm wurde für seine Experimente damit 2010 der Physiknobelpreis verliehen. Die Versuchsanordnung erlaubt es Zwischenräume zu erzeugen, in die gerade eine Lage Wassermoleküle passt.

Überraschende Bestätigung

In so dünnen Lagen verändern sich die Eigenschaften von Wasser, die Moleküle ordnen sich anders an als in größeren Wasserkörpern. Aber die Kelvin-Gleichung beschreibt die Kapillarkondensation auch im ganz Kleinen richtig.

„Dies kam für mich sehr überraschend“, sagt Yang. Er habe mit einem vollständigen Zusammenbruch der konventionellen Physik gerechnet.

„Gute Theorien funktionieren oft jenseits ihrer Anwendbarkeitsgrenzen“, kommentiert Geim. Selbst Lord Kelvin wäre überrascht, wenn er sehen könnte, dass seine Theorie, die ursprünglich millimetergroße Röhren betrachtete, sogar auf der Ein-Atom-Skala Bestand hat, vermutet der Nobelpreisträger. Er hatte sich in seiner Arbeit dazu geäußert und es als Unmöglichkeit betrachtet. „Unsere Arbeit gibt ihm also Recht und korrigiert ihn zugleich“, sagt Geim.

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