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In der Natur denkt es sich leichter. So dachten auch die großen Aufklärer. Das Bild zeigt ein von Mendelssohns Urenkel bewirtschaftetes Gut.

© Manfred Fuß / Mendelssohn-Gesellschaft / JV

Die Gärten der Weisheit : Im Grünen trefflich streiten

Moses Mendelssohn, Gotthold Ephraim Lessing und Friedrich Nicolai: Wie das Dreigestirn der Berliner Aufklärung draußen diskutierend Wahrheit suchte

Der Garten Eden nach Erschaffung der Welt, so lassen sich die biblischen Erzählungen verstehen, war ein Ort, an dem unterschiedlichste Bewohner und Nutzer gut miteinander auskamen, sich glücklich verständigen konnten: Mensch und Gott, Tier und Mensch, Mann und Frau, Schmuckpflanze und Nutzgewächs.

In den Weisheitsgärten des 18. Jahrhunderts, bei denen es sich um feudale Parkanlagen oder unscheinbare Vorstadtlauben handeln kann, lässt sich ebenfalls ein utopischer Markenkern erkennen: Es geht es um die Vermehrung des Wissens, den Wettstreit der Wissenden, die Suche nach Wahrheit und die Überführung der Meinungsgegensätze in intellektuell produktive Harmonie.

Die Göttin Minerva als Patronin der Aufklärung

Als Patronin der Aufklärung und der Weisheitsgärten für Aufklärer hat man im Verlauf des 18. Jahrhunderts eine klassische Dame entdeckt und beim intellektuellen Marketing eingespannt: Athene, die Tochter des Zeus; im römischen Pantheon Minerva, Tochter des Jupiter.

Die Aufklärer vereinnahmten sie, um mithilfe dieser mythologischen Figur eigene Erzählungen bildkräftig zu transportieren. Zu Minervas etruskisch-römischem Beruf als Beschützerin des Handwerks, des Schiffsbaus und der Künste waren – aus der Verschmelzung mit dem griechischen Athene-Kult – die Ressorts „Wissen“, „Weisheit“ und „Gerechtigkeit“ hinzugekommen. Außerdem taktische Kriegsführung, Siegverleihung und Staatslenkung.

Mit diesem umfangreichen Portefeuille wird sie zur populär-potenten, androgynen Frontfrau für die heraufziehende Zeit der Umbrüche. In der Perspektive der Aufklärer passen die Ressorts Weisheit und Kampf, Strategie und Dialog, die Vernunft und die Künste, Gerechtigkeit und Toleranz gut zusammen. Mit dem gebündelten Strauß all dieser Kompetenzen agiert Minerva als Jupiters Exekutive zur klugen Vervollkommnung der Welt.

Moses Mendelssohn (1729-1786) ist von Minerva fasziniert, obwohl er mit Vielgötterei (und dem christlichen Trinitätsdogma) als gläubiger Jude nichts anfangen kann. Für ihn ist Vervollkommnung eine politische, gesellschaftliche Aufgabe. Er gilt als weiser Moderator, wird bewundert als gewitzter Profi für konstruktive intellektuelle Auseinandersetzungen.  

Streitbarer Dialog, für den die Weisheitsgöttin steht, findet an Treffpunkten statt, die Moses mit seinen Freunden aufsucht; dazu gehören gerade die von uns hier zur funktionalen Einordnung so bezeichneten Arbeitslauben: Berlins bürgerliche, kleine, unauffällige Dialogwerkstätten im Grünen, die wir hier ebenso als Minervas Terrain definieren wie die prächtigen feudalen Weisheitsgärten mit Statuen der intelligenten Kämpferin und Tempeln.

Weiser Moderator: Moses Mendelssohn in einer Porträtminiatur aus dem Jahr 1767.  

© Manfred Claudi / Mendelssohn-Gesellschaft / JV

Menschenduldung: die Meinung des anderen aushalten

In den Weisheitsgärten werden Konflikte – das ist die zivilisatorische Inspiration, die man der Schirmherrin zuschreibt – im rationalen Wortgefecht ausgetragen. Die Meinung des anderen aushalten: eben auch eine Übung in Menschenduldung.

Minerva, von der es heißt, sie sei in voller Rüstung zur Welt gekommen, ist keine Pazifistin. Sie kämpft aber bevorzugt mit Mitteln der Vernunft – und verkörpert den heilenden Prozess der Sublimierung und Verwandlung, der Veredelung von Aggression zum temperamentvollen Diskurs. Die Gärten der Weisheit werden für solche Erfahrungen zur Spielwiese.

Der Dreißigjährige Krieg ist den Nachgeborenen des 18. Jahrhunderts noch sehr nah. Das Marodieren und Blutvergießen in der ersten Hälfte des 17.Jahrhunderts mitsamt seinen religiös markierten Lagerbildungen hat Generationen traumatisiert, Wahrheitsmonopole verwirrt, konfessionell zugeschnittene Territorien aufgemischt und auch dazu geführt, dass sich hundert Jahre später die Zweifel der Aufklärungsepoche in der Gesellschaft verbreiten.

Als Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing sich 1754 kennenlernen, herrscht aufs Neue Krieg. Das ungleiche Paar – spielsüchtiger Pfarrerssohn der eine, mathematisch begeisterter Sohn eines Synagogenschreibers der andere – hält in einer Laube die Redaktionssitzung ab für ihre Zeitschrift „Briefe, die neueste Litteratur betreffend“, in einem Weisheitsheitsgarten der bürgerlichen Art: ein Schuppen, Brennholz und Sträuchergewuschel im Hintergrund, vorne ein Tisch mit Bücherstapeln. Kräftemessen, intellektuelles Fingerhakeln, das Aufknüpfen gordischer Gedankenknoten und das rivalisierende Gefecht zur Entdeckung analytischer Lösungsversuche wird von nun an immer wieder ihren brieflichen oder leibhaftigen Austausch über Gott und Welt bestimmen.

Das Dreigestirn Mendelssohn, Lessing, Nicolai

Komplettiert wird dieses „Dreigestirn“ der Berliner Aufklärung durch den Verlagsbuchhändler Nicolai, einen energiegeladenen Praktiker auf dem Feld der Printmedien. Friedrich Nicolais Laube bietet sich als ungestörter Diskussionsort und tröstliche Zuflucht an, sogar mitten im Winter, wie ein Appell des Moses an Lessing aus dem ersten Jahr des Siebenjährigen (Welt-)Kriegs belegt: „Warum fliehen Sie diesen Ort der Unruhe, der Betrübnis und der allgemeinen Verzweiflung nicht?“, schreibt er an Lessing, der im kriegsgeplagten Leipzig gestrandet ist.

Die Gesellschaft diskutiert in der Gartenlaube: So ist es auf diesem undatierten Aquarell von Daniel Chodowiecki zu sehen.

© Jüdisches Museum Berlin / JV

„Kommen Sie zu uns, wir wollen in unserm einsamen Gartenhause vergessen, dass die Leidenschaften der Menschen den Erdball verwüsten. Wie leicht wird es uns sein, die nichtswürdigen Streitigkeiten der Habsucht zu vergessen, wenn wir unsern Streit über die wichtigsten Materien, die wir schriftlich angefangen, mündlich fortsetzen werden!“

Öffentlich kann sich Mendelssohn kaum als Gegner der königlichen Kriegsführung positionieren. Während er auf dem intellektuellen Feld den fruchtbaren Dialog als Mittel der Auseinandersetzung praktiziert, akzeptiert er zugleich – im Einklang mit der Obrigkeitstheologie der bedrängten jüdischen Minderheit und der Mehrheitsgesellschaft – die gottgegebene Autorität des Monarchen.

Wir wollen in unserm einsamen Gartenhause vergessen, dass die Leidenschaften der Menschen den Erdball verwüsten.

Moses Mendelssohn an Gotthold Ephraim Lessing

Als Philosoph jedoch kultiviert er den Dialog. Streitbarer Diskurs ermöglicht die zivile Verwandlung von Dissens in fruchtbaren Austausch, die Verwandlung des Chaos in Ordnung. Gärten, die er für solche Zusammenkünfte mietet oder besucht, sind seine Laboratorien.

Während des Siebenjährigen Krieges entsteht aus den brieflichen Diskussionen des „Dreigestirns“ Lessing, Mendelssohn, Nicolai sowie aus Arbeitstreffen zu zweit oder zu dritt sowie aus gewissermaßen hybriden Zusammenkünften gemeinsamer Brieflektüre und -beantwortung eine Sammlung von Debatten und Thesenschriften, die das kollektive Kunstwerk des produktiven intellektuellen Dialogs auf einzigartige Weise dokumentieren.

Der „Briefwechsel über das Trauerspiel“ und Lessings im Folgejahrzehnt publizierte Schrift „Laokoon. Oder über die Grenzen der Malerei und Poesie“ sind erhalten als berühmte ästhetische Resultate aus diesem „Dreigestirn“-Diskurs, der häufig im privaten Schutzraum der Laube stattgefunden hat.

Debatten im Schutzraum der privaten Laube

Im Sommer 1756, als der Siebenjährige Krieg mit der „Präventiv“-Attacke des preußischen Königs begann, wurde Lessing, der Dritte im Bunde, gleich aus der Ferne in diese Sitzungen einbezogen: „Ich bin der grübelnden Metaphysik auf einige Zeit ungetreu geworden“, schreibt ihm Mendelssohn. „Ich besuche Hrn. Nicolai sehr oft in seinem Garten. Wir lesen Gedichte; Herr Nicolai liest mir seine eigenen Ausarbeitungen vor; ich sitze auf meinem kritischen Richterstuhl, bewundere, lache, billige, tadele, bis der Abend hereinbricht. Dann denken wir noch einmal an Sie, und gehen, mit unsrer heutigen Verpflichtung zufrieden, von einander. Ich bekomme einen ziemlichen Ansatz zu einem Belesprit. Wer weiß, ob ich nicht einst Verse mache?“

Nicolai bestätigt die Beschreibung ein paar Wochen später, bei ihm liegt der Schwerpunkt auf der Entspannung: „Ich habe den Sommer im Garten, mit der Bibliothek, mit gelehrten Neuigkeiten nach Frankreich, mit Hrn. Moses, mit Musik, mit Faulheit, und wer weiß womit mehr, zugebracht. Gestern habe ich den Garten verlassen, und heute fällt mir ein, daß ich ein Buchhändler bin, und daß ein Buchhändler seine Briefe beantworten muß […].“

Aus dem Briefwechsel, der den Gang des Diskurses protokolliert und manchmal Szenarien der Begegnung sowie die Stimmung beim Schlagabtausch skizziert, lassen sich Regeln für das Dialog-Kunstwerk der Aufklärer ableiten.

Johann David Schleuen: Prospect des Gesundbrunnens bei Berlin. Ansicht der Kuranlagen, um 1770. Kupferstich, koloriert.

© Roman März / Jüdisches Museum Berlin / JV

Für Herrn Moses hatte die Erziehung zum Dialog-Profi schon vor seiner Berliner Zeit, in der Dessauer Talmudschule beim Rabbiner David Fränkel begonnen. Das Studium des mittelalterlichen Religionsphilosophen Maimonides legte damals bereits bei Mausche, dem Talmudschüler, die Basis für vernunftorientierte Argumentation. Mit dem Torastudium lernte er schon als Kind, in der Bibel den Urtext samt allen verschiedensten Kommentaren aus jahrhundertelanger Tradition gemeinsam zu rezipieren, konträre Meinungen gegeneinander bestehen zu lassen – und darüber zu argumentieren.

Der Schreibtischhocker kombiniert Natur und Ratio

Die Dialog- und Trialog-Erfahrung des „Dreigestirns“, wie sie am „Briefwechsel über das Trauerspiel“ nachzuvollziehen ist, verstärkt und verfeinert solche Lernerlebnisse: im Sinne der Aufklärer und ihres Programms von Vervollkommnung.

Durch die Einbringung und Ausbildung sozialer Tugenden, dazu gehören: Höflichkeit, Offenheit, Herzlichkeit, Witz und Ironie, Interesse und Neugierde, Mut zur scharfen Kritik und Bereitschaft, solche einzustecken.

Außerdem: das Formulieren der Argumente des anderen besser als dieser selber. Ferner: Engagement, Lust am spielerischen Gefecht, Sachlichkeit, Gründlichkeit, Leidenschaft. Gefordert sind das Zuhören und Hinterfragen, das Einfordern der Gegenmeinung, Suche nach Übereinstimmung. Es kommt dabei an auf den Einsatz fürs eigene Argument, auf Mut zum Dissens. Das heißt: Zwischenresümees ziehen bezüglich der Differenzen und der Konsenspunkte. Freundschaft bewahren trotz der Differenzen. Dialog ist schön, macht aber viel Arbeit.

Es passt zu Mendelssohns ganzheitlicher Anthropologie der Empfindsamkeit, zu seinen Reflexionen über das Zusammenspiel von Kopf und Bauch, Gefühl und Verstand, Sinnlichkeit und Geist, dass günstige Labor-Bedingungen für solche Erfahrungen im Garten der Weisheit eher gegeben sind als in der „Baumannshöhle“, Kneipe in der Brüderstraße und Treffpunkt Berliner Literaten. Der Schreibtischhocker Mendelssohn schafft es, Natur und Ratio, das Angenehme mit Nützlichem zu kombinieren – also im Grün unterschiedlicher Weisheitsgärten seine Diskurswerkstatt zu erfinden.

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