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Szene aus Hedda Gabler an der Schaubühne 2005.

© Berliner Festspiele

Franco Moretti am Wissenschaftskolleg: Der Tod des Bürgerlichen

Die Epoche des "Besitz- und Bildungsbürgertums" ist definitiv zuende, konstatiert Franco Moretti. Eine Begegnung mit dem Literaturprofessor aus Stanford am Berliner Wissenschaftskolleg.

Eigentlich ein denkbar unpassender Ort, um über das Verschwinden des Bürgertums nachzudenken. Die Villa des Wissenschaftskollegs zu Berlin am Halensee im Grunewald ist umgeben von herrschaftlichen Häusern, imposanten Eingangstoren, großen Gärten mit altem Baumbestand. Durch die Fenster sieht man Bibliotheken und Schreibtische, Ohrensessel und Stehlampen. Die Räume des Kollegs selbst sind von einer strengen, fast einschüchternden Ästhetik geprägt: dunkle Holztäfelung, stille Leseplätze, Regal mit Büchern, Büchern, Büchern.

Trotzdem ist Franco Moretti, Professor für Literaturwissenschaft an der amerikanischen Elite-Universität Stanford und zum zweiten Mal als Fellow zu Gast in Berlin, überzeugt, dass die Epoche des seriösen, rationalen „Besitz- und Bildungsbürgers“, den er unter dem Begriff „Bourgeois“ zusammenfasst, längst zu Ende ist. „Die industrielle und dann auch die digitale ‚Revolution’ haben eine Mischung aus wissenschaftlichem Analphabetismus und religiösem Aberglauben produziert.“ Vor allem in den USA, zunehmend aber auch in Europa, sei die Gesellschaft geprägt von Infantilisierung, Anti-Intellektualismus und Irrationalität.

Prosa als zentraler Bestandteil bürgerlicher Kultur

Das sind die einleitenden Worte an diesem Abend, sie sind dem Autor ein Anliegen, aber eigentlich nicht das Kernthema seines neusten Buchs. In „The Bourgeois. Between History and Literature“ (Verso, 2013) geht es um Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. Moretti spannt den Bogen vom „Robinson Crusoe“-Autor Daniel Defoe bis zum norwegischen Dramatiker Henrik Ibsen. Ungewöhnlich ist dabei sein methodischer Ansatz: Moretti ist bekannt dafür, dass er Literatur mehr vermisst als interpretiert, dass er sich mehr für Formen und Begriffe als für Motive und Figuren interessiert.

Er arbeite mit einer Art „mikroskopischer Technik“, erklärt der Wissenschaftler, er schaut auf Satzbau, auf Adjektive, Verbformen und Schlüsselwörter. Denn nicht nur auf der Erzählebene, sondern auch in den Strukturen der Texte manifestiere sich das Konzept des Bürgerlichen. Beschreibungen etwa sind im 19. Jahrhundert meist analytisch, unpersönlich und unparteiisch. Überhaupt sei Prosa ein zentraler Bestandteil bürgerlicher Kultur, vielleicht sogar ihre wichtigste Errungenschaft – gerade weil sie „langsam“ ist, „schwer“ und „oft langweilig“. Harte Arbeit für den Autor, manchmal auch für den Leser.

Es sei ein melancholisches Buch geworden. Und ja, das habe damit zu tun, dass heute im Zeitalter von Twitter die kurzen Formen überwiegen. „Wenn man nur wenige Worte hat, dann ist es leichter, Gefühle auszudrücken.“ Das wiederum befördere den emotionalen oder sentimentalen Zugang zu Phänomenen. Ob er an eine Wiederbelebung des Bildungsbürgertums oder eine positive Neudeutung des Begriffs „Bourgeois“ glaube? Eher nicht, antwortet Moretti. „Der neue Kapitalismus ist der chinesische. Und der kommt gänzlich ohne das Konzept des Bürgerlichen aus.“

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