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Minimalisten. Künstliches Leben zu erschaffen, ist nicht einfach.

© picture alliance / dpa

Kleinstes lebensfähiges Erbgut geschaffen: Der Kern des Lebens

Wie viele Gene braucht das Leben? Der Star der Genforschung, Craig Venter, und der Nobelpreisträger Clyde Hutchison glauben, dass sie es herausgefunden haben.

Die Antwort auf „die Frage aller Fragen“, nämlich nach dem „Leben, dem Universum und dem ganzen Rest“, wird in Douglas Adams Science-Fiction-Roman „Per Anhalter durch die Galaxis“ mit der ebenso profanen wie rätselhaften Zahl „42“ beantwortet. Ein Forscherteam um den Nobelpreisträger Clyde Hutchison und Genomforscher Craig Venter kommt jetzt zu einem anderen Ergebnis: 473. Sie versuchen, künstliches Leben zu schaffen und ihren aktuellen Experimenten zufolge braucht eine selbständig lebensfähige Zelle mindestens 473 Gene.

 Minimalisten-Forschung

Seit 1995 basteln die Forscher bereits an der „Minimalzelle“. Sie starteten mit winzigen, parasitären Mycoplasma-Bakterien, die als Organismen mit den wenigsten Genen bekannt sind. Nur 525 sind es bei Mycoplasma genitalium. Indem sie im Mycoplasma-Erbgut die Gene einzeln und in Gruppen ausschalteten, lernten die Forscher, welche zum Überleben nötig und welche entbehrlich sind. Außerdem verglichen sie M. genitalium-Gene mit denen anderer minimalistischer Bakterien und bemerkten, dass sie nur 250 Gene gemeinsam haben.

Also spekulierten die Forscher, dass nur diese 250 unverzichtbar sind. Daraus müsse eine lebende Zelle konstruierbar sein. Die Methoden, um aus den vier chemischen Grundbausteinen der DNS (kurz als A, G, T und C bezeichnet) ganze Genome zu synthetisieren, wurden im J. Craig Venter Institute (JCVI) im kalifornischen La Jolla in den letzten zwanzig Jahren entwickelt. Dabei werden erst tausende von kurzen Erbgutstücken chemisch synthetisiert und dann miteinander verknüpft.

Ganz so einfach war es nicht

2010 bewies das Team zum ersten Mal, dass ein derart synthetisch hergestelltes Erbgut in eine Mycoplasma-Zelle injiziert und tatsächlich ein natürliches Genom vollständig ersetzen kann. Doch das Erbgut dieses Geschöpfes, „JVCI-syn 1.0“ genannt, war kein Minimalgenom, sondern enthielt noch alle 901 Gene, die auch das Erbgut von Mycoplasma mycoides umfasst, das Vorbild für das synthetische Genom. Doch mithilfe ihrer Technik sollte es nun ein Kinderspiel sein, jene Gruppe von Genen zu identifizieren, die mindestens zum Leben nötig sind. Dazu mussten Venter und Hutchison nur die DNS-Bausteine der essenziellen Gene zusammenstecken, das Erbgut in leere Mycoplasma-Hüllen schleusen und hoffen, dass sie sich entwickeln.

Pionier der Gensequenzierung. Craig Venter bastelt seit 20 Jahren am Minimal-Erbgut.

© AFP

Aber ganz so einfach ließ sich das Geheimnis des Lebens nicht enträtseln. Sechs Jahre gingen seit JVCI-syn1.0 ins Land. Neben verzichtbaren und unverzichtbaren Genen gebe es viele „quasi-essenzielle“, die zwar nicht absolut kritisch zum Überleben, aber dennoch nötig für robustes Wachstum seien, geben die Forscher jetzt im Fachblatt „Science“ zu. Berücksichtigte Venters Team solche Gene nicht, schlug das Experiment fehl.

Nach „drei weiteren Design-, Synthese- und Test-Zyklen“ funktionierte es: Das künstliche Mycoplasma-Bakterium „JCVI-syn3.0“ lebt und wächst und teilt sich mit nur 473 Genen, die aus nur 531.000 DNS-Bausteinen bestehen – „ein Erbgut kleiner als jede selbstständig vermehrungsfähige Zelle aus der Natur“, schreiben die Forscher im Fachblatt „Science“. Etwa 180 Minuten brauchen die Zellen, um sich zu verdoppeln. Damit seien sie etwa so schnell wie JVCI-syn1.0.

79 lebenswichtige Gene ohne bekannte Funktion

428 Gene der 901 Gene von JVCI-syn1.0 hält das Venter-Team also für verzichtbar. „Es könnten vermutlich noch mehr Gene entfernt werden, ohne die Überlebensfähigkeit zu verlieren, aber wahrscheinlich würde dann die Wachstumsrate darunter leiden“, schreiben die Forscher.

Die meisten Gene braucht die Minimalzelle für das Ein- und Ausschalten von Genen (die Genexpression): 195. Damit die Zellmembran funktioniert, sind 84 Gene nötig und weitere 81 für den Stoffwechsel. Erstaunlich wenige Gene, 36, sind dafür zuständig, das Erbgut zu verdoppeln und zu reparieren. Und manch einen mag es beruhigen, dass Venter & Co. nach mehr als zwanzig Jahren Forschung an Mycoplasmen noch immer keine Ahnung haben, welche Funktion jene rätselhaften 79 Gene haben, die ihr künstlicher Organismus unbedingt zum Überleben braucht. „Wir nehmen an, dass sie in eine der vier Kategorien gehören“, schreiben sie. „Aber es kann auch sein, dass sie bisher unbekannte biologische Funktionen haben.“

 Ein Minimalrezept fürs Leben

Ohne Frage ist der Forschungsansatz der JCVI-Forscher der bislang beste, um Antworten auf die (zumindest für Biologen) „Frage aller Fragen“ zu finden – nach dem Minimalrezept für das Leben. Allerdings darf man nicht aus den Augen verlieren, dass Venter & Co. mit ihrer Methode nur jene Gene findet, die nötig sind, um diese speziellen Mycoplasmen-Zellen unter ebenso speziellen Laborbedingungen am Leben zu erhalten. Sehr wahrscheinlich wären andere Gengruppen (und andere Laborbedingungen) nötig, um die Zelle anderer Minimalbakterien oder gar Darmbakterien wie Escherichia coli überleben zu lassen.

Außerdem schafft Venter, streng genommen, gar kein neues oder gar künstliches Leben. Die Zelle, in die er das künstlich synthetisierte Erbgut einschleust, lebte schon vor dem Eingriff. Und es ist diese lebende Zelle, die eine funktionstüchtige Zellmembran, ein lebensfähiges Zellplasma und vielleicht sogar die entscheidenden Zutaten mitbringt, die Leben möglich machen.

Das eingeschleuste Minimalgenom schafft es zwar, diese lebenswichtigen Zellbestandteile beim Wachen und Teilen der Zelle aufrechtzuerhalten und neu zu bilden – ähnlich wie ein künstliches Herz den Blutkreislauf aufrechterhält. Ein beachtlicher Erfolg. Aber damit hat Venter noch lange nicht alle Zutaten beisammen, um Leben wirklich neu, ohne Zutun bereits vorhandenen Lebens, entstehen zu lassen. Dafür braucht es mehr als nur ein paar Gene. 473 ist also eine, aber nicht die letzte Lösung.

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