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Einsame Menschen haben den Eindruck, allein auf der Welt zu sein und nicht gebraucht zu werden.

© Jorm Sangsorn - stock.adobe.com

Der Durst nach Kontakt: Wie Einsamkeit Geist und Körper verändert

Warum fühlt sich Einsamkeit so unumkehrbar an? Forscher haben biologische Gründe gefunden – die Hoffnung machen: Betroffene können aus ihrer Situation ausbrechen.

Es ist wie das Gefühl, das man verspürt, kurz bevor man weint. Aber die Tränen kommen nicht. Stattdessen breitet sich das Gefühl im Innersten immer weiter aus, wird von Woche zu Woche und Monat zu Monat erdrückender. Es ist Einsamkeit. Die womöglich komplizierteste aller menschlichen Emotionen hat in den vergangenen zehn Jahren zu einer Flut wissenschaftlicher Studien geführt.

Psychologen, Neurowissenschaftlerinnen und andere Forschende versuchen zu ergründen, welche biologischen Mechanismen hinter Einsamkeit stecken. Und sie liefern Antworten, die Hoffnung machen.

Wir alle fühlen uns früher oder später im Leben einmal einsam. Meistens hängt das Gefühl von einer Übergangssituation ab, in der wir uns gegenwärtig befinden – oder befinden müssen. Wenn wir in eine neue Stadt ziehen, zum Beispiel. Oder ein neues Studium beginnen. Wenn wir unseren Ehepartner verloren haben, oder unsere Arbeit.

Dennoch ist Einsamkeit nicht einfach zu erkennen, weder für Ärzte, noch Forschende. Bei vielen Menschen verfliegt die Einsamkeit so schnell, wie sie gekommen ist. Etwa dann, wenn sie einem Hobby-Fußball-Verein beitreten, oder eine romantische Beziehung eingehen. Allerdings ist Einsamkeit nicht zwangsläufig an die Abwesenheit von Menschen gebunden, so hat es der berühmte Neurowissenschaftler John Cacioppo einmal festgestellt. Auch unter Menschen kann man sich einsam fühlen.

Die Betroffenen verzweifeln regelrecht an ihrem subjektiven Gefühl, nicht genug sinnvolle Kontakte zu haben. „Sie fühlen sich einsam, weil ihr soziales Netzwerk nicht ihren Erwartungen entspricht“, erklärt es Daniel Russell, Professor für menschliche Entwicklung und Familienstudien an der Iowa State University gegenüber der „New York Times“. Russell hat an der Entwicklung der UCLA-Einsamkeitsskala mitwirkt, die in der Forschung häufig verwendet wird, um mit 20 Aussagen den Schweregrad einer Einsamkeit zu messen.

Wie in einem Labyrinth

Einsame Menschen haben den Eindruck, allein auf der Welt zu sein, auch in Gesellschaft. Sie scheinen wie in einem Labyrinth gefangen zu sein, aus dem sie nicht mehr herausfinden. In der Zeit, in der sie in den Gängen umherirren, manifestiert sich ihre Einsamkeit. Sie wird chronisch.

Vor allem zwei Altersgruppen scheinen von Einsamkeit besonders betroffen zu sein: die Jungen und die Alten. In einer Studie, die in „The Journal of Psychology“ veröffentlicht wurde, wird das höchste Maß an Einsamkeit für Menschen unter 25 und über 65 geschätzt. Eine große deutsche Bevölkerungsstudie kam zu einem ähnlichen Ergebnis. Andere Studien zeigen, dass Arbeitslose, Menschen mit geistigen oder körperlichen Beeinträchtigungen, Alleinerziehende sowie ethnische Minderheiten ein erhöhtes Risiko für chronische Einsamkeit haben.

Einsame Menschen haben den Eindruck, allein auf der Welt zu sein und nicht gebraucht zu werden.
Einsame Menschen haben den Eindruck, allein auf der Welt zu sein und nicht gebraucht zu werden.

© Sasha Freemind

Es ist wichtig, auf die ersten biologischen Alarmsignale zu hören, sonst droht das Gefühl zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu werden. Zu dieser Erkenntnis kamen Forschende im Fachblatt „Aging and Mental Health“. Ein Team der Brunel University London führte eine Langzeitstudie mit Menschen über 50 Jahren durch. Diejenigen, die sich darum sorgten, irgendwann einsam zu sein, waren acht Jahre später tatsächlich eher einsam als diejenigen, die dies nicht befürchtet hatten.

Kaskade an geistigen und körperlichen Folgen

Wenn die Einsamkeit verdrängt wird, kann es zunehmend schwieriger werden, was dagegen zu unternehmen. Depressionen, Schlafstörungen, Angstzustände, Schuldgefühle, Wut – eine Kaskade psychischer Symptome können folgen. Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass chronische Einsamkeit auch mit körperlichen und neurologischen Problemen zusammenhängt, darunter eine erhöhte Anfälligkeit für Infektionen, kognitiver Abbau, Schlaganfall, Demenz, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Übergewicht oder Diabetes.

Wie sich das Gehirn umformt

Wenn Einsamkeit eine Epidemie ist, als das sie manchmal bezeichnet wird, was sind ihre Ursachen? Die ersten Antworten darauf haben Neurowissenschaftler:innen in den Tiefen des Gehirns entdeckt: Einsame Menschen nehmen die Welt anders wahr, hat ein Team der University of Southern California herausgefunden.

Das Ruhezustandsnetzwerk einsamer Menschen, das sich über mehrere Hirnregionen erstreckt, ist demnach größer. Das Netzwerk wird immer dann aktiv, wenn unsere Aufmerksamkeit sich nach innen richtet und wir etwa anfangen, über andere nachzudenken. Einsame Menschen scheinen andere Gedankenprozesse zu haben. Sie grübeln mehr, imaginieren soziale Erfahrungen herbei, reflektieren über erlebte Situationen und sich selbst neu.

Einsame Menschen scheinen also zum einen viel überzuinterpretieren, zum anderen nehmen sie sich genau deswegen auch „anders“ wahr, was wiederum ihr Gefühl verstärkt, nicht verstanden zu werden. Ob die Einsamkeit zu den Veränderungen im Gehirn führt oder die Veränderungen zu Einsamkeit, kann noch nicht beantwortet werden.

Es gibt weitere neuronale Marker: Die Amygdala, die unsere Kampf-oder-Flucht-Reaktion auslöst und bei der Verarbeitung emotionaler Reaktionen hilft, läuft bei einsamen Menschen auf Hochtouren: Das erklärt, zusammen mit neuronalen Veränderungen, die den körperlichen Stress erhöhen, wieso einsame Menschen soziale Situationen als Bedrohung empfinden und nicht als Einladung. Diese Hyperwachsamkeit bringt einsame Menschen in die Defensive.

Wir könnten uns jeden Tag 15 Minuten Zeit nehmen, um auf Menschen zuzugehen, die uns wichtig sind.

Vivek Hallegere Murthy, führender US-Gesundheitsbeauftragte

Einsame Menschen neigen eher dazu, sich von geliebten Menschen verletzt oder hart behandelt zu fühlen, heißt es in „Psychology and Aging“. Sie würden manchmal mit „zynischer Feindseligkeit“ reagieren, weil sie weitere Ablehnung befürchten. In einer anderen Studie schreiben Forschende von einer „selbstverstärkenden Schleife“: Einsame Menschen wären, weil sie sich bedroht fühlen, geneigt, ihre Freunde zu kritisieren. Sie würden sich dadurch immer weiter zurückziehen. Sie nehmen die Welt also nicht nur anders, sondern als bedrohlicher wahr.

Doch es gibt Hoffnung: Die Neurowissenschaftlerin Stephanie Cacioppo, Ehefrau des mittlerweile verstorbenen Einsamkeitsforscher John Cacioppo, ist sich sicher, dass die Veränderungen im Gehirn rückgängig gemacht werden können. Die Betroffenen könnten aus dem Teufelskreis wieder ausbrechen. Doch wie?

Einsamkeit in der Versorgung

Forschende auf der ganzen Welt wollen, dass die unsichtbare Verwundbarkeit in der medizinischen Versorgung stärker beachtet wird. Beispielsweise könnte die UCLA-Einsamkeitsskala oder ähnliche Fragebögen in eine jährliche Vorsorgeuntersuchung eingebunden werden, schlägt etwa Russell vor. Allerdings bräuchte es hierfür klare Diagnosekriterien, die aufzeigen, wann eine Person so einsam ist, dass die Ärztin oder Arzt etwas dagegen unternehmen sollte, betont er – ähnlich wie bei anderen psychischen Erkrankungen wie Depressionen.

Wenn es so weit ist, könnten die Patientient:innen an hilfreiche Organisationen vermittelt werden. Die Bundesregierung hat erst kürzlich 111 Maßnahmen gegen Einsamkeit verabschiedet, darunter befinden sich Dutzende Angebote zu Selbsthilfegruppen oder verschiedenen Kursen.

Die Patient:innen könnten durch ihren behandelnden Arzt auch dazu ermutigt werden, sich psychologische Hilfe zu suchen. Die kognitive Verhaltenstherapie, eine Form der Gesprächstherapie, scheint laut Expert:innen der momentan beste Weg zu sein, die sozialen Fähigkeiten einsamer Menschen zu verbessern und negative Interpretationen zu zerstreuen. Eine solche Therapie könnte auch hilfreich sein, damit Betroffene verstehen, woher ihre Einsamkeit kommt und warum sie vielleicht wiederkehrt.

Pille gegen Einsamkeit

Tatsächlich suchen einige Wissenschaftler:innen wie Stephanie Cacioppo auch nach einer „Pille“ gegen die Einsamkeit. Das Hormon Pregnenolon reduzierte in klinischen Studien nachweislich Stress und konnte helfen, die Symptome der Hyperwachsamkeit zu lindern. Allerdings würde ein solches Medikament, falls es breit eingesetzt, nicht den Durst nach sozialem Kontakt stillen können, erklärte Cacioppo gegenüber „The Guardian“. Das könnten Betroffene nur selbst in die Hand nehmen.

Die wichtigsten Veränderungen werden ohnehin die einsamen Menschen selbst vornehmen müssen. Fachleute können dabei nicht den einen Ratschlag geben, der für alle Betroffenen gleichermaßen gilt. Denn jeder und jede erlebt die Einsamkeit anders und hat andere Bedürfnisse.

Was einsame Menschen tun können

Eins ist dabei klar: Einsame Menschen müssen nach Kontakten suchen, auch wenn sie sich nicht danach fühlen. Das kann ein täglicher Videocall bei der Schwester während des Mittagessens sein, der neue Buchclub, ein Kumpel, mit dem man regelmäßig trainieren geht oder soziales Engagement. Auch kleine alltägliche Gespräche, also flüchtige Begegnungen, könnten dazu beitragen, damit sich einsame Menschen wahrgenommener fühlen.

Manchen Menschen kann es helfen, ihre ein bis zwei engen Freundschaften weiter auszubauen, sich endlich zu trauen, über ihre Einsamkeit zu sprechen. Anderen hilft es womöglich eher, mehr Leute kennenzulernen und weniger tiefe Verbindungen einzugehen.

Das wirksamste Mittel gegen Einsamkeit sei die Hilfe von anderen Menschen, findet Vivek Hallegere Murthy. Der führende US-Gesundheitsbeauftragte spricht von einer „Medizin, die sich im Verborgenen abspielt“: „Es könnte bedeuten, dass wir uns jeden Tag 15 Minuten Zeit nehmen, um auf Menschen zuzugehen, die uns wichtig sind, uns unseren Nachbarn vorstellen, uns um Kollegen kümmern, die es vielleicht schwer haben.“ Ein guter Vorsatz fürs Fest und das neue Jahr.

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