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Schule in Coronazeiten.

© Gregor Fischer/dpa

Schulleiter kritisieren Minister in Coronakrise: "Das Gefühl, ein vergessener Teil der Gesellschaft zu sein"

Viele Schulleitungen fühlen sich von den Kultusministern in der Coronakrise im Stich gelassen. Hybridunterricht dürfen selbst die nicht machen, die es könnten.

Der eine sagt es noch halbwegs höflich, manche sind schon wütend. Schulleiter und Schulleiterinnen aus ganz Deutschland fühlen sich von der Politik im Stich gelassen. „Die Kultusminister haben sich ihrer Fürsorgepflicht entzogen und die Gesamtverantwortung für die Pandemie auf die Schulleiter abgewälzt“, sagt etwa der Rektor der Elly-Heuss-Knapp-Schule in Baden-Württemberg, Harald Schröder.

Sein Kollege Timo Off, in Nortorf ganz oben im Norden meint: „Wir klammern uns am Präsenzunterricht fest, um Noten für Klassenarbeiten zu geben. Es würde vieles erleichtern, wenn ein paar Vorgaben zurückgenommen würden."

In den Gesprächen mit Schulleitern, die der Tagesspiegel in den vergangenen Tagen führte, ist so etwas wie Verzweiflung zu spüren: „Wir befinden uns am Limit“. „Es ist etwas zerbrochen zwischen Schulministern und den Schulen“. „Das wird Spuren hinterlassen.“ - Solche Sätze äußert die wohl wichtigste Gruppe für Schulen, die es im Moment gibt: die Schulleiterinnen und Schulleiter.

Ein wichtige Rolle für die Unzufriedenheit spielt der Umgang der Kultusminister mit den Corona-Grenzwerten. Die Kultusminister haben den vom Robert-Koch-Institut (RKI) vorgegeben Grenzwert von 50 Inzidenzen in der Woche pro 100.000 Einwohner lange ignoriert. Bei Überschreitung von 50 pro 100.000 empfiehlt das RKI Schulen, das Wechselmodell anzuwenden, also einen Teil der Schüler zuhause über digitale Plattformen zu unterrichten.

"Wenn Grenzwerte nicht passen, werden sie eben passend gemacht"

Vergangene Woche hoben die Länder diesen Inzidenzwert auf 200 an. „Das hat doch Tradition: wenn Grenzwerte nicht passen, werden sie eben passend gemacht“, sagt Harald Schröder, der Leiter einer Gemeinschaftsschule ist.

Seine Kollegin aus dem niedersächsischen Hatten, Silke Müller, erklärt das Unverständnis ihrer Kolleg*innen: „Viele sind irritiert und verunsichert – man kann es nicht anders sagen – über die Missachtung des Wertes von 50 Inzidenzen im schulischen Kontext durch die Kultusminister.“

Müller leitet die als „smart school“ preisgekrönte Waldschule in Hatten südlich von Oldenburg. Sie begründet die Irritation mit der aufklärerischen Rolle der Lehrer: „Wir haben unseren Schülern die ganze Zeit den Wert von 50 Neuinfektionen pro 100.000 erklärt. Weil nur dann die Gesundheitsämter das Infektionsgeschehen nachverfolgen und die Intensivstationen die Covid-Erkrankten versorgen können. Plötzlich aber soll dieser Wert keine Rolle mehr spielen? Das unterwandert unseren Erziehungs- und Bildungsauftrag.“

Digitales Klassenzimmer - nicht alle Schulen sind gut ausgestattet, aber für hybrides Lernen gibt es auch andere Methoden.

© picture alliance / SZ Photo

Selbst der Wert von 200 Neuinfizierten pro 100.000 Einwohner wird inzwischen von der Kultusadministration bereits wieder relativiert. Konsequenzen könnten sich daraus nur für einzelne Schulen ergeben, schrieb etwa der Schul-Staatsekretär aus Nordrhein-Westfalen (NRW), Mathias Richter, in einer seiner Mails, die beinahe jeden Freitag bei den Schulleitern des Landes eingehen. „Modelle eines stadt- oder kreisweiten Wechselunterrichts“, so Richter, „sind damit nicht vereinbar und auch nicht erforderlich“.

NRW hält daran fest, hybrides Lernen zu untersagen

Damit hält NRW an seiner harten Linie fest, Städten die Einführung so genannten hybriden Lernens zu untersagen. Zuletzt wurde den Schulen der Stadt Solingen die Weisung erteilt, ihre Schüler wieder in die Klassenzimmer zu holen – trotz eines Inzidenzwertes von über 250. Die Schulen wollten, weil digital gut ausgestattet, wegen der vielen Coronainfektionen Hybridunterricht anwenden. 

Ähnlich restriktiv geht Baden-Württemberg vor. Schulministerin Susanne Eisenmann (CDU) sagte beim Redaktionsbesuch einer Zeitung, „für den Wechselunterricht spricht gar nichts. Es gibt keine inhaltliche Begründung, weder Zahlen noch Fakten“. Das Land habe Wechselunterricht nach Pfingsten ausprobiert – aber ohne durchschlagenden Erfolg.

Videounterricht und eigenverantwortliches Lernen

Viele Schulleiter sehen das ganz anders. Sie sind verantwortlich für die Gesundheit von Lehrkräften wie Schülern – und für das Lernen. „Wir haben uns intensiv auf die verschiedensten Szenarien digitalen Hybrid- und Distanzunterrichts vorbereitet, wir könnten das“, berichtet etwa Tobias Schreiner von der Realschule in Gmund am Tegernsee. „Nun würden wir im Fall anhaltend hoher Inzidenzen diese Kenntnisse auch gerne anwenden, um unseren Beitrag zum Gesundheitsschutz zu leisten.“

Klassen in Quarantäne unterrichtet die bayerische Schule nach regulären Stundenplan weiter – mit einer Mischung aus Videounterricht und eigenverantwortlichem Arbeiten.

[Zu den Problemen der Schulen in der Coronapandemie lesen Sie auch: ein Streitgespräch zwischen Heinz-Peter Meidinger und Thomas Sattelberger.]

Alle Lehrkräfte an Schreiners Realschule haben bereits ein Dienstgerät, auch die Endgeräte für Schülerinnen und Schüler aus dem Bundesprogramm sind in Gmund bereits angekommen. „Ich kann mir auch einen differenzierten Hybridunterricht gut vorstellen, der die unterschiedlichen familiären Bedürfnisse nach Betreuung berücksichtigt – und trotzdem für alle Schülerinnen und Schüler die Einhaltung des Mindestabstands gewährleistet.“

Wie bildungsgerecht ist der Präsenzunterricht?

Ähnlich drückt es die Wanda Klee aus, die das Westfalen-Kolleg in Dortmund leitet. Distanzlernen sei eine Form, die mehr Sicherheit bringe – und Bildung gewährleiste. „Hybrid bedeutet, dass Präsenz- und Distanzunterricht miteinander verbunden sind. Es bedeutet nicht doppelte Arbeit für Lehrkräfte und halben Unterricht für Schülerinnen und Schüler“, sagte sie dem Tagesspiegel.

Klee hat für das 17-Millionen-Einwohnerland eine Handreichung für hybrides Lernen erstellt. Sie räumt mit einem Missverständnis auf. Hybridunterricht sei viel mehr als die Schüler zuhause vor ein Video oder eine Videokonferenz zu setzen. „Es geht darum zu entscheiden, was über Instruktion durch Lehrer passieren muss – und was Schüler allein erarbeiten können. Feedback und Hilfestellung werden dabei neu organisiert. Das gilt auch für die Kooperation unter den Schülern. Digitale Tools können dabei sehr hilfreich sein, die Kooperationsmöglichkeiten sogar erweitern. Aber es geht auch analog.“

Lüften, lüften, lüften: Schule in Pandemiezeiten. Lehrkräfte vermissen, dass sich Politiker ein Bild vor Ort machen.

© Daniel Bockwoldt/dpa

Die Kultusminister der Länder begründen ihr Festhalten am Präsenzunterricht mit Bildungsgerechtigkeit: der werde man am ehesten gerecht, wenn man möglichst alle Schüler in die Klassenzimmer hole. Viele der befragten Schulleiter sehen den wahren Grund aber eher im System von Noten und Abschlüssen. „Diese Art von Lernen baut auf Vorschriften auf. Wenn man aber jahrzehntelang darauf gesetzt hat, dass am Ende des Lernprozesses stets eine Kontrolle steht, fällt es schwer loszulassen“ erläutert Timo Off aus Nortorf.

Ein Vorschlag: die Stundentafel reduzieren

Verbindlicher Präsenzunterricht sei wesentlicher Bestandteil dieser Idee. „Denn derzeit werden schulische Prüfungen grundsätzlich im Schulgebäude abgenommen." Off leitet eine der ersten Gemeinschaftsschulen in Schleswig-Holstein, die auch das Abitur anbieten. Er schlägt vor, landesweit Stundentafel und Fachanforderungen herunter zu setzen. „In Sport wird dies bereits praktiziert. Solche Regelungen ließen sich auch für andere Fächer treffen. Dass wir für dieses Jahr die Verbindlichkeiten reduzieren – und Raum für sinnvolles Lernen schaffen.“

Allerdings scheinen pädagogische Details nicht mehr die Hauptsorge der Schulleiter zu sein. Sie kämpfen mit einem Vertrauensverlust ihrer Lehrer. „Es ist ein Riesenproblem, dass die Kolleg*innen das Gefühl haben, ein vergessener Teil der Gesellschaft zu sein“, berichtet Schulleiterin Müller aus Hatten bei Oldenburg.

Viele Lehrkräfte fühlen sich verheizt

In den schulischen Argumentationen der Politik tauchten die Lehrkräfte als Akteure häufig gar nicht auf. „Es herrscht darüber großer Unmut. Wir haben hier seit Corona keinen Politiker gesehen, der sich mal ein eigenes Bild von Regelunterricht unter Pandemiebedingungen gemacht hat. Ich verstehe, dass grad viel los ist. Aber ich verstehe nicht, dass die Politik gerade jetzt nicht das Signal an die Basis der Lehrer sendet: wir sehen Euch!“ Laut einer Umfrage des Verbandes Bildung und Erziehung sehen sich aktuell nur noch vier Prozent der Schulleitungen von den Kultusministern unterstützt. Vor Corona waren es immerhin zehn Prozent.

Andere Schulleiter sprechen davon, dass sich Lehrkräfte verheizt fühlten und innerlich emigrierten. „Gesellschaftlich haben wir 'faule Säcke' keine Lobby“, meinte die Leiterin des Westfalen-Kollegs in Dortmund, Wanda Klee. „Ein Minister hat bereits im Sommer den Vorwurf erhoben, dass 'Lehrer sich wegduckten'. Wir haben ein regelmäßiges Einkommen und müssen nicht um unsere Existenz fürchten wie andere Gruppen. Das lässt sich prima für Lehrer-Beschimpfung instrumentalisieren.“

Große Wut in Baden-Württemberg

In Baden-Württemberg ist die Wut der Lehrer und Schulleiter dieser Tage wegen des Chaos bei den Weihnachtsferien groß. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hatte vergangene Woche verkündet, dass die Schulen bereits ab 18. Dezember schließen. Am Dienstag nun widerrief seine Schulministerin Eisenmann dies wieder. Sie will, dass alle Klassen bis zur Siebten in die Schule kommen, auch das allerdings freiwillig. Ab Klasse acht werde verbindlich Distanzlernen geübt – an den beiden ersten Tagen der Woche vor Weihnachten.

Das hat im ganzen Land Hohn und Spott ausgelöst. „Man muss bei uns keinen Franz Kafka mehr lesen“, sagte der einflussreiche Lehrer und Blogger Bob Blume in einem Video auf Instagram. „Man muss einfach in die neueste Schulverordnung reinschauen“. Blume, der auf Instagram mehr als 18.000 Follower hat, drückte öffentlich aus, was viele in den Schulleitungen denken: „Man merkt, dass die Schulleitungen der Politik in Baden-Württemberg völlig egal sind.“ Das Video wurde tausendfach geteilt.

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