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Zeichnung, die eine rekonstruierte Szene aus dem Leben der Neandertaler auf dem Doggerland illustriert.

© Illustration: Kelvin Wilson

Das Atlantis Europas: Strandläufer entdecken die ewigen Jagdgründe der Doggerländer

Rituelle Ritzungen, Werkzeug und Krijns Schädel: Was vor 8000 Jahren endgültig in der Nordsee versunken ist, kommt zurück - durch Sandaufspülungen.

Auerochsen, Rotwild und Wildschweine fühlten sich wohl in dieser waldreichen Landschaft, die von Flüssen wie Maas, Rhein, Themse und Elbe durchzogen war. Die Feuchtgebiete hinter der Küste boten Wasservögeln, Ottern, Bibern und Fischern eine Lebensgrundlage, insgesamt ideale Verhältnisse für früh- und mittelsteinzeitliche Jäger und Sammler.

Wer heute am Strand von Kijkduin bei Den Haag aufs Meer schaut, sieht Schiffe, die auf Reede liegen und auf die Einfahrt in den Tiefseehafen Maasvlakte vor Rotterdam warten. Eine Ölbohrinsel am Horizont steht für die intensive wirtschaftliche Nutzung der Nordsee.

Das Land, das unseren Vorfahren einst solche idealen Lebensbedingungen bot, liegt heute unter der Nordsee. „Doggerland“ – benannt nach der gigantischen Untiefe Doggerbank zwischen der Britischen Insel und Dänemark – ist vor 8000 Jahren endgültig überflutet worden und für immer versunken.

Funde und Forschungsergebnisse werden erstmals ausgestellt

Doch immer wieder sind in den vergangenen Jahrzehnten Hinterlassenschaften der einstigen Bewohner des Doggerlandes angespült worden. Die mittlerweile erzielten Forschungsergebnisse zu dieser versunkenen Welt werden jetzt erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt.

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Die Ausstellung „Doggerland. Verdwenen Wereld in de Noordzee“ (Verschwundene Welt in der Nordsee) im Rijksmuseum van Oudheden RMO (Nationales Museum für Altertümer) in Leiden soll Ende Mai für das Publikum eröffnet werden, wenn es die Pandemie zulässt.

Ein Forscher hält eine Steinklinge mit einem schwärzlichen Griff in blauen Laborhandschuhen in die Kamera.
Ein wertvolles Fundstück ist ein Schaber aus Feuerstein, den Neandertaler mit einem Griff aus Birkenpech versahen.

© Rijksmuseum van Oudheden

Doggerland sei das „Atlantis Europas“, sagt Luc Amkreutz, Konservator am RMO. Es handle sich um das prähistorisch reichste Gebiet Europas und wahrscheinlich eines der fundreichsten Gebiete der Welt. Ein Paradies für Archäologen, das allerdings lange Zeit aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwunden war.

Das Gebiet war knapp so groß wie Großbritannien heute und erstreckte sich über 200.000 Quadratkilometer zwischen der Küste von Nordfrankreich, Belgien, der Niederlande, Deutschlands und Dänemarks und reichte bis zur britischen Landmasse, die vor einer Million Jahren nicht aus Inseln bestand, sondern Teil des europäischen Kontinents war.

[Einen Überblick über unsere Berichte zum Forschungsgebiet der Archäologie finden Sie hier]

Schon 1913 hatte der britische Geologe Clement Reid in seinem Buch „Submerged Forests“ geschrieben, dass die immer wieder durch Erosion der Küste zum Vorschein kommenden urzeitlichen Baumstümpfe auf einen dramatischen Anstieg des Meeresspiegels und eine Überflutung von Land hindeuten.

1931 landete eine Harpune aus Geweih im Schleppnetz

Mit dem Aufkommen der Schleppnetzfischerei fanden sich immer wieder urzeitliche Knochen als Beifang in den Netzen der Fischer. 1931 wurde erstmals ein Stück Torf mitgefangen, in dem eine 20 Zentimeter lange Harpune aus einem Geweih steckte.

Mit der Anlage des Tiefseehafens Maasvlakte I und II vor der Küste Rotterdams und dem Küstenschutzprojekt „Zandmotor“ (Sandmotor), einer künstlichen Sandbank vor Kijkduin, veränderte sich die Situation schlagartig. Dass man unter der Nordsee mehr als eine versunkene Landbrücke nach England zu erwarten hatte, entdeckte bereits vor 20 Jahren der britische Archäologe Bryony Coles, der auch den Namen „Doggerland“ in der Wissenschaft durchsetzte.

Landkarte mit dem Küstenverlauf des Doggerlandes und dem heutigen Küstenverlauf.
Doggerland (die walförmige Landmasse in der Mitte der Karte) vor 10.000 Jahren. Rot eingezeichnet ist der heutige Küstenverlauf.

© Illustration: RMO/Olav Odé

Am Ende der letzten Eiszeit vor 22.000 Jahren lag der Meeresspiegel in dieser Region um 125 Meter tiefer. Was nach der allmählichen Überflutung durch die Nordsee und der endgültigen Trennung von Großbritannien und dem Kontinent vor 8000 Jahren von Doggerland übrigblieb, verbirgt sich 20 bis 30 Meter unter dem Meeresspiegel.

Der Sand, den die Niederländer zur Aufschüttung der künstlichen Inseln vor der Küste brauchten, wiederum wurde zehn Kilometer vor der Küste aus der Tiefe gesaugt. Und damit aus dem Bereich, der heute als Doggerland bezeichnet wird. Damit spülte man unzählige Tier- und Menschenknochen sowie Pfeil- und Speerspitzen aus diesen Materialien zusammen mit steinzeitlichen Werkzeugen an den Strand.

Citizen Scientists helfen den Forschenden

Aufmerksame Spaziergänger, Fossiliensammler und Hobbyarchäologen entdeckten in den letzten 20 Jahren immer mehr Artefakte zwischen den Muscheln im Sand. „Citizen science“ im besten Sinne.

„Ohne diese Menschen, die die Objekte am Strand sammeln und melden, wären wir nie so weit gekommen“, sagt Amkreutz. Die Finder dürfen die Artefakte behalten, aber sie sind durch das Kulturerbegesetz verpflichtet, ihren Fund zu melden. Inzwischen gibt es auch eine Website und eine App dafür (www.oervondstchecker.nl).

Nach einem der jährlichen Bestimmungstage meldete eine Strandläuferin, die einen bearbeiteten Stein mit einer schwarzen Masse daran am Zandmotor gefunden habe. Ob sie den Teer entfernen solle? Amkreutz erinnert sich an den Aufschrei der Archäologen – und tatsächlich stellte sich heraus, dass es ein Steinschneidezeug aus Feuerstein mit einem Griff aus Birkenpech war, den ein Neandertaler vor etwa 50.000 Jahren gefertigt hatte. Weltweit gibt es nur fünf weitere Exemplare.

Entdeckt wurde an der Küste von Zeeland auch ein Teil der Schädeldecke eines Neandertalers mit dem charakteristischen Augenbrauenwulst. Diesen ersten Neandertaler der Niederlande nannte man „Krijn“. Die Brüder Arie und Alfons Kennis, spezialisiert auf die paläontologische Rekonstruktion von Menschenknochen, sind nun dabei, auf Basis dieses Knochenfragments und eines vergleichbaren Schädels aus Frankreich eine Büste von „Krijn“ für die Ausstellung herzustellen.

Eine Strandläuferin bückt sich am Wassersaum nach einem vermutlichen Fundstück.
Strandläuferin an der niederländischen Küste auf der Suche nach archäologischen Funden.

© Frans de Winter

Einen der bedeutendsten Funde machten zwei Männer, die alle 14 Tage systematisch ganze Fischkisten fossiler Knochen durchsuchen, die ihnen Fischer überlassen. Meistens sind die Knochen beschädigt und wertlos. Aber ein Stück erregte ihre Aufmerksamkeit: ein Mittelfußknochen eines Auerochsen, dessen Oberfläche ein eingeritztes geometrisches Zickzackmuster aufwies.

Vergleichbare Objekte fand man in Wales, Nordfrankreich, Dänemark und Polen. Das zeige, wie weit diese Kultur der Jäger und Sammler verbreitet gewesen sei, erklärt Amkreutz. Mit 13.000 Jahren sei dieser Knochen das älteste Kunstwerk der Niederlande und wahrscheinlich rituell genutzt worden.

Konserviert im Schlick oder im Torfbett

Doggerland ist für die Forschung besonders wertvoll, weil all die organischen Funde aus Knochen und Geweih so lange unter einer meterdicken Schlickschicht, oft auch in einem Torfbett lagen und so perfekt konserviert wurden. Anhand der Knochen und der bearbeiteten Stücke können mit Hilfe von DNA-Untersuchungen und Isotopenanalyse Alter, Lebensweise und Ernährung, ja sogar die Herkunft ermittelt werden.

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Zwei Pfeilspitzen wurden aus Menschenknochen gefertigt, was sehr selten ist, sagt Amkreutz. DNA-Untersuchungen ergaben, dass die frühen Europäer aus Afrika gekommen und zunächst deutlich dunkelhäutiger waren als moderne Menschen.

So sehr sich die Wissenschaftler über die Funde freuen, die durch die Sandgewinnung an Land gespült werden, so sehr schmerzt die dabei unvermeidliche Zerstörung der Fundzusammenhänge. Das Bewusstsein für den Wert des Doggerlandes sei aber inzwischen gewachsen, sagt Amkreutz. So ermöglichten die Hafenbetriebe Rotterdam in Zusammenarbeit mit dem Nationalen Kulturerbedienst und den Stadtarchäologen Rotterdams eine in dieser Form weltweit einmalige Grabung im Hafenbecken vor dessen Ausbau. Taucher konnten von einem Pontonboot aus in 20 Meter Tiefe eine vorzeitliche Lagerstätte ausgraben und wiesen so neue Wege in der Unterwasserarchäologie.

Fächerförmig ausgelegte Sammlung von Speer- und Pfeilspitzen.
Strandgut: An die Küste von Zuid-Holland werden immer wieder Pfeil- und Speerspitzen gespült.

© RMO

675.000 Euro stellte die Niederländische Organisation für Wissenschaftliche Forschung (NWO) einem Verbund aus niederländischen Universitäten und Museen im vergangenen Jahr zur Verfügung. In den kommenden vier Jahren soll damit im Projekt „Resurfacing Doggerland“ die Zeit vor 20.000 bis 6000 Jahren systematisch untersucht werden.

„In dem Gebiet müssten Schutzzonen eingerichtet und wir als Wissenschaftler sollten bei der Anlage von Windparks – insbesondere bei der Fundierung der Masten – einbezogen werden“, fordert Amkreutz. Das Doggerland sei eine weltweit einmalige Schatzkammer. „Wir müssen ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Doggerland vielleicht die wichtigste archäologische Landschaft Europas ist.“

Zudem halte Doggerland uns den Spiegel vor. „Wenn wir nichts tun, wird in 700 Jahren der Meeresspiegel in Mitteleuropa neun Meter höher liegen“, sagt Amkreutz. Die Menschen vor 8000 Jahren hätten gewusst, dass sie in einer dynamischen Landschaft lebten, an die sie sich anpassen mussten. Der sogenannte Storegga-Tsunami, ausgelöst durch das Abrutschen von Sediment am Unterwasserhang in Norwegen, hatte eine enorme Flutwelle ausgelöst, die abgeschwächt auch Doggerland traf.

Doch schon früher hatte das ständige Vordringen des Meerwassers Folgen für das Hinterland, Brunnen versalzten, Bäume stürzten um. Doggerland wurde immer sumpfiger, die Menschen wanderten letztendlich ab – wohin, könnten weitere DNA-Analysen zeigen.

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