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Blinddarmentzündung (Symbolbild)

© dpa/W. Grubitzsch

Chirurgiekongress in Berlin: Der Blinddarm muss nicht raus

Eine Blinddarm-OP ist bei Kindern der häufigste chirurgische Eingriff. Doch nicht immer ist eine Operation nötig. Oft reichen Antibiotika.

Eine „Medozin“, die „gegen alles“ wirkt, wollte Pippi Langstrumpf einst beim erstaunten Apotheker kaufen. Gegen Keuchhusten, Windpocken, Masern und nicht zuletzt auch gegen Bauchschmerzen, die Kinder oft quälen. Und die oft eine Operation nötig machen, wenn die Ursache ein entzündeter „Blinddarm“ ist.

Nicht nur Erwachsene, auch Kinder müssen nicht unbedingt unters Messer

Das Entfernung des Wurmfortsatzes am Blinddarm-Abschnitt des Dickdarms ist bei Heranwachsenden zwischen zwei und 15 Jahren der häufigste chirurgische Eingriff. Jeder zehnte Erwachsene hat ihn – meist in der Kindheit – hinter sich gebracht. In der Erwachsenenmedizin setzte sich in den vergangenen Jahren allerdings die Erkenntnis durch, dass man es zunächst mit einer antibiotischen Therapie versuchen kann. Bei Kindern galt bis vor Kurzem jedoch die Devise: Es hilft alles nichts, ein entzündeter Wurmfortsatz (Appendix) muss operiert werden.

Nun kommt aus der Astrid-Lindgren-Kinderklinik der Karolinska-Universität in Stockholm die frohe Kunde, dass auch bei Kindern die Behandlung mit Antibiotika eine erwägenswerte Strategie ist. Für eine Pilotstudie, deren Ergebnisse 2015 in den „Annals of Surgery“ veröffentlicht wurden, teilten die schwedischen Kinderchirurgen 50 Kinder zwischen fünf und 15 Jahren mit einer akuten Blinddarmentzündung ohne Durchbruch in den Bauchraum nach dem Zufallsprinzip einer von zwei Behandlungsgruppen zu: Die Hälfte der Kinder wurde sofort operiert, die andere Hälfte ebenfalls ins Krankenhaus aufgenommen, dort aber zunächst nur mit Antibiotika behandelt.

Ergebnis: Nur zwei von ihnen mussten kurz darauf doch operiert werden. Ein weiteres Kind bekam neun Monate später nochmals eine akute Blinddarmentzündung und musste dann unters Messer. Zusätzlich wurden sechs Kinder wegen Bauchschmerzen oder auf Wunsch der Eltern im Jahr nach dem ersten Krankenhausaufenthalt operiert, wobei sich im entfernten Gewebe allerdings keine Entzündung zeigte.

Die Devise ist: Abwarten und Beobachten

Die Autoren um den Kinderchirurgen Jan Svensson folgern, dass auch bei Heranwachsenden ein Vorgehen zu verantworten ist, das sich bei Erwachsenen schon in zahlreichen Studien bewährt hat: Drei von vier Erwachsenen brauchen den Daten einer Cochrane-Metaanalyse zufolge weder während einer akuten Blinddarmentzündung noch im Jahr darauf eine OP, ihnen helfen Antibiotika.

Ob auch in der Kinderchirurgie ein grundsätzliches Umdenken angezeigt ist, das wird derzeit im Berliner CityCube diskutiert, wo noch bis zum 20. April der 135. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie tagt. „Mit der schwedischen Pilotstudie wurde das lang bestehende Paradigma erschüttert, dass ein entzündeter Blinddarm bei Kindern unverzüglich und dringend entfernt werden muss“, sagt Bernd Tillig, stellvertretender Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie und Direktor der Klinik für Kinder- und Neugeborenenchirurgie am Neuköllner Vivantes-Klinikum.

In der Fachwelt habe das für intensive Diskussionen gesorgt, in der Öffentlichkeit sei der Paradigmenwechsel jedoch bisher nahezu unbemerkt geblieben. Dass ausgerechnet Kinderchirurgen im konkreten Fall von einer sofortigen Operation abraten, wirkt deshalb auf viele besorgte Eltern zunächst befremdlich. Die Kinderchirurgen müssen also ganz ausführlich tun, was gemeinhin nicht als Kernkompetenz von Operateuren gilt: die Eltern (und auch ältere Kinder) im Gespräch über den Verlauf der Krankheit und neue Erkenntnisse aufklären.

Keine OP, keine Narbe

Dass bei einer akuten Entzündung des Wurmfortsatzes Antibiotika eingesetzt werden, ist nicht neu. Wenn er bereits geplatzt ist und die Entzündung auf den Bauchraum übergegriffen und sich ein Abszess gebildet hat, ist es üblich, zunächst (und oft auch ausschließlich) mit Antibiotika zu behandeln. Auch bei der unkomplizierten Appendizitis stehen die Medikamente vor und nach dem Eingriff auf dem Behandlungsplan.

Der Verzicht auf eine Operation erspart den Kindern die Narkose und Folgen des Eingriffs, etwa die Narbenbildung. Allerdings müssen sie trotzdem im Krankenhaus behandelt und beobachtet werden. Dazu kommt: Bis zu 40 Prozent der Kinder, die nicht sofort operiert werden, brauchen den Eingriff nach einigen Tagen Antibiotika-Therapie doch. Und bei einigen Kindern, die als geheilt entlassen werden, meldet sich der Blinddarm später erneut mit einer Entzündung. „Bei einem solchen Rezidiv entscheiden sich Eltern und Ärzte in der Regel für eine Operation, auch wenn im Prinzip eine erneute Behandlung mit Antibiotika versucht werden könnte“, sagt Tillig.

Ohne Hektik, ohne Angst davor, dass der akut entzündete Darmabschnitt platzen könnte, kann man aber auch prophylaktisch operieren: nachdem die erste Blinddarmentzündung ausgestanden ist. Wenn operiert wird, nachdem erfolgreich mit Antibiotika behandelt wurde und die Kinder sich erholt haben, sind Komplikationen deutlich seltener als bei einem Eingriff unter (vermeintlichem) Zeitdruck. Eine solche „Intervall-Appendektomie“ ist also ein weiterer Vorteil der medikamentösen Behandlung.

Erst die präzise Diagnostik macht die abwartende Behandlung möglich

Die Sicherheit, stets das Richtige zu tun, verdanken die Ärzte vor allem der präzisen Ultraschalldiagnostik. „Früher wurden viele Appendektomien durchgeführt, obwohl der Blinddarm gar nicht entzündet war, heute kommt das nur noch sehr selten vor“, sagt Tillig. Im Ultraschallbild lässt sich bei Kindern mit großer Sicherheit erkennen, ob der Wurmfortsatz verdickt ist oder ob der Bauchschmerz andere Ursachen hat. Bei Erwachsenen ist dafür meist ein Computertomogramm (CT) nötig.

Daher habe man nur in Kliniken mit der Expertise für solche Diagnostik die nötige Sicherheit, um bei einem Kind gegen einen operativen Eingriff zu entscheiden oder ihn aufzuschieben, betont Kinderchirurg Tillig. „Und nach wie vor spielt die Operation die zentrale Rolle.“ Eine verlässlich gegen jede Blinddarmentzündung wirksame „Medozin“ wurde nämlich auch am Astrid-Lindgren-Hospital noch nicht gefunden.

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