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Englisch lernen in China. Schüler in Schanghai debattieren im Unterricht. Die Metropole nahm für China an der Pisa-Studie teil und schnitt überragend ab. Sehr guter Unterricht sei hier längst üblich, sagt der Pisa-Chef. Doch in vielen Regionen sieht es anders aus. Foto: Imago

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Pisa-Erfolg: Chinas harte Schule

Chinesische Schüler lernen bis spätabends, ihr Leben richtet sich allein nach den Prüfungen. Gibt der Pisa-Erfolg dem Land recht?

„Wenn ich groß bin, möchte ich als Taekwondo-Profi für China die Olympischen Spiele gewinnen oder als Polizist in Australien arbeiten“, erzählt der zehnjährige Li Junxing. Auch chinesische Schulkinder haben Träume. Ihnen bleibt aber nur selten Zeit, diesen nachzuhängen. Wie die meisten chinesischen Schüler hat Junxing einen vollgepackten Stundenplan. Auf den regulären Unterricht folgen Lerngruppen, Sprachunterricht und andere Zusatzaktivitäten. Bis 16 Uhr hat Junxing, der in die 6. Klasse eines modernen Internats geht, täglich Unterricht. Danach muss er Hausaufgaben machen. Zusätzlich bekommt er Klavierunterricht, Taekwondostunden und zweimal die Woche privaten Englischunterricht. „Ich habe schon genug Zeit zu spielen. Nur wenn Prüfungen anstehen, wird es eng“, sagt der Pekinger Schüler.

Für deutsche Verhältnisse scheint Li Junxings Lernpensum bereits hoch. Sein Zeitplan ist strikt – doch er darf abends immerhin auch mal Radio hören oder einen Film gucken. Dafür bleibt anderen chinesischen Schulkindern kaum Zeit. Denn ein normaler Schultag mit Hausaufgaben und Privatunterricht dauert oft bis 21 Uhr.

„Der gesellschaftliche Druck auf unsere Kinder, aber auch auf uns Eltern, die beste Bildung für unsere Kinder zu ermöglichen, ist groß“, sagt Junxings Mutter Zhu Ying, die wie ihr Mann im Finanzbereich arbeitet. Sie weiß, dass sie ihrem Sohn viel zumutet. „Aber mit den zusätzlichen Aktivitäten wie dem Klavierspielen oder dem Taekwondo wollen wir unserem Sohn eine Welt eröffnen, die seine Schule ihm nicht bieten kann“, sagt sie. Platzierungen bei Wettbewerben seien ihr nicht so wichtig. Eine Einstellung, die wohl nur wenige chinesische Eltern teilen.

Denn ob in Peking oder in Schanghai, ob in der Schule oder beim Privatunterricht, das Ziel chinesischer Eltern bleibt das gleiche – sie alle wollen sehr gute Noten für ihre Kinder. Nur diese ermöglichen den Zugang zu guten Universitäten, Grundvoraussetzung für einen gut bezahlten Job. Bei der Bewertung der Schüler setzt Chinas Schulsystem schon bei den Jüngsten auf regelmäßige Tests. Ohne hohe Punktzahlen bleiben den Kindern die guten Mittelschulen verschlossen.

Gleiches gilt in der Prüfung der 5. Klasse, die bestimmt, ob man eine der besseren Oberschulen besuchen kann. Am Ende entscheidet die wichtige Aufnahmeprüfung („Gaokao“), ob man einen Studienplatz bekommt. Deshalb lernen chinesische Kinder so intensiv für Prüfungen, deshalb konzentrieren sie sich vor allem aufs Auswendiglernen. Und deshalb ist ihr Leben ein einziger Wettbewerb.

Regelmäßige Tests und Lernen bis zur Erschöpfung. Sieht so das Bildungsmodell der Zukunft aus? Ist das eine Lehre aus der Pisa-Studie? Zum ersten Mal haben Schüler vom chinesischen Festland aus der Millionenmetropole Schanghai an der Studie teilgenommen und gleich herausragende Ergebnisse in Mathematik, Naturwissenschaften und auch beim Lesen und Verstehen von Texten erzielt. Doch während man in Europa und den USA voller Anerkennung und auch etwas überrascht auf das gute Abschneiden der chinesischen Schüler schaut, warnen chinesische Bildungsexperten davor, die Ergebnisse überzubewerten.

So schreibt Jiang Xueqin, Bildungsexperte der Pekinger Universität, im „Wall Street Journal“, Chinas Schulsystem sei zwar „mit seinen fordernden Eltern, ambitionierten Schülern und seiner Testbesessenheit das strengste der Welt“. Während die Welt dieses System jetzt lobe, sei China aber gerade dabei, dessen Schwächen zu begreifen. Viele chinesische Schulen würden daran scheitern, Schüler auf eine höhere Bildung und eine wissensorientierte Wirtschaft vorzubereiten.

Eines der größten Probleme bleibe, dass die Schüler zu sehr aufs Auswendiglernen getrimmt werden. „Wie kann man eine starke Vorstellungskraft und Kreativität entwickeln, wenn man nur auswendig lernen darf, was in den Lehrbüchern steht. Wenn einem gesagt wird, dass es nur eine richtige Antwort auf eine Frage gibt“, heißt es in einem Kommentar der Zeitung „China Daily“, im Dezember kurz nach der Bekanntgabe der Pisa-Ergebnisse. Auf Kosten einer glücklichen Kindheit würden chinesische Kinder zu professionellen Prüflingen herangezogen.

Glaubt man der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), hat Chinas Regierung einige Fehlentwicklungen im Bildungssystem erkannt. „In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich die chinesische Politik darum bemüht, die Prüfungsorientierung des Systems zu mindern“, heißt es in einem Dokument der OECD, das sich mit dem chinesischen Bildungssystem befasst. Auch den Arbeitsaufwand der Schüler versuche China zu reduzieren.

Doch ebenso wie chinesische Experten kommt auch die OECD zu dem Schluss, dass diese Anstrengungen bisher noch nicht genügend gefruchtet haben. Ein Blick in den Alltag von chinesischen Schulkindern genügt, um sich davon zu überzeugen. „An manchen Tagen schlafen mir die Kinder im Unterricht ein. So erschöpft sind sie“, sagt Lu Hua, die an einer der vielen privaten Sprachschulen in Peking Englisch unterrichtet. Schon Dreijährigen habe sie Englisch beibringen sollen, die noch kaum ihre eigene Sprache beherrschten.

Großer Leistungsdruck und eine Prüfungsorientierung, die jegliche Kreativität verhindern – abgesehen von diesen Fehlern im System darf auch nicht übersehen werden, dass an dem Pisa-Test lediglich Schüler aus Schanghai und aus Hongkong teilgenommen haben. In der Pisa-Studie wird deutlich ausgewiesen, dass die Ergebnisse nicht für ganz China gelten, sondern nur für diese beiden Regionen. Doch diese sind bei weitem nicht repräsentativ für das ganze Land. Schanghai hat als reiche Hafenstadt für das chinesische Festland traditionell immer eine Vorreiterrolle eingenommen, kann viel Geld in Bildungseinrichtungen fließen lassen.

Auch der Pisa-Chef bei der OECD, Andreas Schleicher, sagt, in Schanghai sei jetzt schon zu beobachten, wie es in Gesamtchina in zwanzig Jahren aussehen werde. Videostudien von Schulstunden in Schanghai hätten ergeben, dass der Unterricht nicht mehr aufs Pauken von Faktenwissen reduziert sei. Vielmehr werde „anspruchsvoller“ Unterricht gegeben, der weit über das bloße Reproduzieren von Wissen hinausgehe. Lehrer würden individuell auf die Bedürfnisse ihrer Schüler eingehen. Daher sei es nicht verwunderlich, dass Schüler bei der Pisa-Studie gut abschneiden, die ja gerade nicht Fakten abfragt, sondern herausfinden will, wie Schüler Wissen anwenden können.

Hongkong, dessen Schüler den vierten Platz bei Pisa belegten, ist ein noch offensichtlicherer Sonderfall. Mit seiner Vergangenheit als britische Kronkolonie gilt auch bei der Bildung das Motto „ein Land, zwei Systeme“. Mögen einige andere chinesische Großstädte noch an dieses Spitzenniveau heranreichen – die Bedingungen in den ländlichen Regionen sehen deutlich schlechter aus.

Die ungleiche Verteilung der Bildungschancen hat nicht nur eine geographische Komponente, sondern auch eine soziale. Etwa 30 Millionen Wanderarbeiterkinder im schulfähigen Alter gibt es laut OECD, deren Eltern auf der Suche nach Arbeit in chinesische Großstädte strömen. Zwei Drittel dieser Kinder kommen mit ihren Eltern in die Großstädte, während etwa zehn Millionen bei Verwandten in den Heimatdörfern zurückgelassen werden. Die Wanderarbeiterkinder in den Großstädten haben zwar gute Schulen vor ihrer Haustür, dürfen diese aber nicht immer besuchen. Weil sie wie ihre Eltern keine Stadtbürgerschaft (Hukou) besitzen, werden sie in vielen Metropolen von Sozialleistungen – wie einem kostenlosen Schulbesuch – ausgeschlossen.

Für den Schulbesuch ihrer Kinder haben Wanderarbeiter zudem häufig kein Geld. Zwar will Chinas Führung die Situation verbessern. Doch der Fortschritt kommt nur langsam. Zumindest für die Hauptstadt Peking hat eine Initiative aus Bürgerrechtlern und Eltern nach langen Protesten erreicht, dass jedes Kind, egal ob es ein Hukou besitzt oder nicht, zur Schule gehen kann – einschließlich der Mittelschule. Der Zugang zur Universität in Peking ist Wanderarbeiterkindern aber noch immer versperrt.

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