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Krebspatienten bei der Chemotherapie im Uniklinikum Hamburg-Eppendorf.

© Ronald Frommann/ LAIF

Krebs und seine Vorstufen: Beobachten statt behandeln

„Laborkrankheiten“ sind der Preis genauer Diagnostik. Abzuwarten fällt dann vielen Patienten nicht leicht – vor allem wenn es um Krebs geht.

Die Chronische Lymphatische Leukämie, kurz CLL, ist die häufigste Form von Blutkrebs in Mitteleuropa. Jedes Jahr erkranken in Deutschland ungefähr 3500 Menschen neu. Das Leiden, das vor allem Menschen über 70 Jahren befällt, kann mit verschiedenen Medikamenten aus den Familien der Chemo- oder der Antikörper-Therapien in Schach gehalten werden. Heilen kann es nur eine Transplantation von Stammzellen, die von einem Spender kommen. Eine bösartige Erkrankung, die Angst macht.

Am Anfang steht eine veränderte Zusammensetzung des Bluts: Eine Untergruppe der weißen Blutkörperchen wird übermächtig. Dass diese monoklonalen B-Lymphozyten sich vermehrt haben, wird oft zufällig herausgefunden, bei einem Menschen, der sich eigentlich gesund und fit fühlt. Aber ist er oder sie das auch? Immerhin geht so gut wie jeder CLL diese Auffälligkeit voraus. Von Medizinern wird sie „Monoklonale B-Lymphozytose“ (MBL) genannt.

Sozusagen aus heiterem Himmel könnte bei der Blutuntersuchung auch eine „Monoklonale Gammopathie unklarer Signifikanz“ (MGUS) gefunden werden – in einigen Fällen eine Vorstufe von Knochenmarkkrebs oder einem Lymphom. Wie bei der MBL liegt das Risiko, dass wirklich Krebs daraus entsteht, allerdings bei unter einem Prozent pro Jahr.

Das Wissen bringt Sicherheit, macht aber auch Angst

„Für sich genommen sind beide Blutwerte keine Krankheit, sondern eine Labordiagnose“, betont der Charité-Krebsmediziner Bernhard Wörmann, Medizinischer Leiter der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO). „Dass sie heute so häufig gestellt wird, ist Folge der komplexen Diagnostik, die heute möglich ist.“ Das Wissen gibt einerseits mehr Sicherheit, trägt aber auch erheblich zur Verunsicherung der Menschen bei, bei denen Ärzte eine solche Auffälligkeit gefunden haben.

Für Krebsmediziner, die sich an den Ergebnissen großer wissenschaftlicher Studien orientieren, ist klar: In vielen Fällen ist Abwarten und aufmerksam Beobachten, was daraus wird, die beste Strategie. Die MBL, für die eine Leitlinie der DGHO das Vorgehen beschreibt, ist dafür ein hervorragendes Beispiel. Auf der Homepage der Fachgesellschaft (www.onkopedia.de) wird das zudem für Patienten „übersetzt“ und erläutert.

Laborauffälligkeiten wie eine MBL sind nicht Krebs. In anderen Fällen, etwa bei einem Tumor in der Brust, der die Grenzen der Milchgänge nicht überschreitet (Duktales Karzinom in situ), streiten die Gelehrten derzeit darüber, ob man schon von Krebs sprechen sollte. Solche Vorstufen müsse man anders benennen, forderten kürzlich die Onkologin Laura Esserman und ihre Mitstreiter aus einer Arbeitsgruppe des Nationalen Krebsinstituts der USA in der Fachzeitschrift „Jama“ (der Tagesspiegel berichtete). Wörmann sieht das etwas anders: „Mein Verständnis ist eher, dass wir keine neue Beschriftung von Schubladen brauchen. Stattdessen sollten wir die Ordnung in den Schubladen besser vermitteln.“ Wichtig sei dabei vor allem das Gespräch mit dem Patienten. „Wir sollten mit ihm über seine Situation sprechen und ihn zu einer individuelleren Betrachtungsweise führen“, sagt er.

Dass jeder Fall grundsätzlich anders liegt, wie es die Rede von der „personalisierten“ Therapie nahelegt, ist damit nicht gemeint: Sogenannte Risiko-Scores – wie beim Prostata-Karzinom der relativ einfache Gleason-Score, dem Merkmale des Tumorgewebes zugrunde liegen – führen durchaus zu einer Einschätzung des Krankheitsgeschehens, die für größere Gruppen gilt. Sie dienen damit als ordnende Hand innerhalb der Schublade.

Manchmal ist es ratsam, auf Symptome zu warten

Einzelne Tumormarker können ebenfalls helfen, Ordnung zu schaffen. So wird bei Frauen, die wegen Eierstockkrebs bereits eine Behandlung durchlaufen haben, danach in bestimmten Zeitabständen die Menge eines Zucker-Eiweiß-Moleküls namens CA 125 im Blut gemessen. Ein Anstieg signalisiert, dass trotz Operation und eventuell einer Chemotherapie ein Rückfall droht. Die Kontrolluntersuchungen sind wichtig, aber auch angstbesetzt. Denn wenn der Eierstockkrebs nach der ersten Behandlung wiederkehrt, ist nach menschlichem Ermessen keine echte Heilung mehr zu erwarten. Krebsmediziner Wörmann warnt allerdings vor einem um sich greifenden „Tumormarker-Terror“.

In den letzten Jahren haben internationale Studien seines britischen Kollegen Gordon Rustin vom Mount Vernon Krebszentrum in Hillingdon belegt, dass es nichts bringt, auf den Anstieg des Wertes sofort mit einer erneuten Chemotherapie zu reagieren. Frauen, die erst dann abermals behandelt wurden, wenn sie echte Symptome hatten, lebten anschließend nicht kürzer – möglicherweise insgesamt aber besser. In den „Annals of Oncology“ schlägt Rustin deshalb vor, frühzeitig mit den Patientinnen zu besprechen, ob sie ihre CA-125-Werte in der Nachsorge überhaupt erfahren wollen. Wenn sie sich dagegen entscheiden, werden sie nur zu Studienzwecken erhoben.

Gilt also der Grundsatz „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“? Für die Früherkennung von Tumor-Vorstufen im Darm oder Gebärmutterhals wäre das keine empfehlenswerte Devise. Andererseits sind Informationen über Blutwerte, die keine Konsequenzen für das Handeln haben, ausgesprochen heikel. Vor allem, wenn es dabei um Rückschlüsse auf Krebs oder seine Vorstufen geht, die immer noch als tickende Zeitbombe empfunden werden. „Es besteht kein Zwang, etwas zu wissen“, sagt Wörmann. Das Schwerste ist dann oft, trotz aller Angst einer abwartenden Strategie zuzustimmen. Wörmann weicht im Einzelfall von dem Vorgehen ab, das die Leitlinie empfiehlt. „Wenn Patienten den Gedanken nicht verkraften, dass ‚nichts’ gemacht wird, obwohl sie doch Krebs haben, dann ist es richtig, trotz fehlender wissenschaftlicher Evidenz zu behandeln.“

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