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Geheimnisvoll. Der Leiter der jüngsten Grabungen in Chavín glaubt, dass vor 3000 Jahren die Menschen von weither kamen, „um das Orakel zu befragen“. Es gibt Vermutungen, dass Priester es aus Räumen unter dem Tempel sprechen ließen.

© Michael Zick

Archäologie: Das Orakel sprach aus dem unterirdischen Labyrinth

Peruanische Archäologen wollen das Rätsel von Chavín de Huántar klären. Der um 900 v. Chr. erbaute Kultplatz in den Anden war monumental - und unterkellert.

„Bei diesem Dorf Chavín steht ein großes Gebäude von bemerkenswerter Qualität aus sehr gut gefügten Steinen; es war eines der berühmtesten Heiligtümer der einheimischen Indios, wie bei uns Rom oder Jerusalem.“ Das berichtet 1616 der spanische Ordensbruder Antonio Vázquez de Espinosa. Nach Chavín „pilgerten sie, um Weihegaben darzubringen und zu opfern; denn der Götze dieser Stätte tat ihnen viele Göttersprüche kund, und deshalb kamen sie aus dem ganzen Reich dorthin.“

Chavín de Huántar ist ein altperuanischer Kultplatz am Ostabhang der Anden in 3400 m Höhe. Der Ort wurde als rituelles Bindeglied zwischen den Welten des amazonischen Tieflandes und den Küstenkulturen am Pazifik gedeutet. Vor allem aber ist die Tempelanlage ein Kronzeuge für die immer älter werdende Zivilisation im Andenraum: Mindestens 2900 Jahre vor den Inka bauten die namenlosen Leute von Chavín ihren Göttern hier einen prächtigen Palast. Jetzt wurden neue archäologische Arbeiten angestoßen, um die offenen Fragen des Platzes zu klären – und davon gibt es viele.

Julio Tello, der Begründer der nationalen peruanischen Archäologie, besuchte die Stätte erstmals 1919 und grub sie bis 1945 zu großen Teilen aus. Dann machte eine Schlammlawine von den Bergen sein Werk zunichte: Die Anlage wurde unter vier Metern Geröll und Erde begraben, vieles an Architektur und Inventar zerstört. Der seit 1955 wieder freigelegte Tempelkomplex ist auch heute ständig bedroht: 1993 schwemmte ein Hochwasser einen Teil der Anlage weg.

Julio Tello ernannte die Kultanlage zur „cultura matriz de la civilisation andina“, zum Urgrund aller peruanischen Kultur: Die Leute von Chavín hätten Peru vom amazonischen Dschungel über das Hochland bis zur Küste und von Nord bis Süd mit einer einheitlichen Religion und Kultur überzogen, als eine Art Kulturbringer, wie in der Alten Welt die Griechen. Chavín de Huántar sei in der zweiten Hälfte des 1. Jahrtausends v. Chr. das zentrale Heiligtum dieser umfassenden Kultur und ausgedehnten Kult-Region gewesen.

Das war der wissenschaftliche Standard bis in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Dann stieß die Erforschung der Tempelanlage Cerro Sechín an der Pazifikküste Chavín vom ersten Platz: Mindestens 700 Jahre älter als der Ort in den Bergen, beanspruchte Cerro Sechín mit seinen kunstvollen Wandgemälden und elaborierten Steinreliefs den Lorbeer des ältesten Religions- und Kunstzentrums. Mit den Ausgrabungen in Caral und Sechín Bajo, beide ebenfalls an der Küste gelegen, wurde die peruanische Zivilisation abermals weiter in die Vorzeit verlagert. In der riesigen Ruinenstätte Caral, gern als erste Stadt Amerikas tituliert, hüteten Priester schon 1800 Jahre vor Chavín ein Heiliges Feuer. Und in Sechín Bajo gruben Berliner Archäologen einen Kultplatz aus, der gar 2600 Jahre älter ist als Chavín de Huántar: Hier schichteten Unbekannte um 3500 v. Chr. luftgetrocknete Lehmziegel zu einer großen Ritualanlage. Da war von den ägyptischen Pyramiden noch weit und breit nichts zu sehen.

Das alles aber tut dem Renommee der Chavín-Kultur keinen Abbruch, und mit den landesweiten Ausgrabungen der letzten Jahre wird das „Phänomen Chavín“ in einem größeren Zusammenhang sozusagen neu erfunden. Die Chavín-Kultur zeichnet sich aus durch feine Goldarbeiten und Textilkunst, ausgefeilte Keramikgefäße und hochstehendes Steinmetz-Kunsthandwerk. Die Chavín-Keramiken fanden die Archäologen bei ihren Grabungen der beiden letzten Jahrzehnte nahezu im gesamten Andenraum. Die Chavín-Kultur besaß eine Verbreitung von über 800 Kilometern Nord-Südrichtung und reichte von der Pazifikküste über die Anden bis zum Amazonastiefland.

Die Verbreitung hatte, nach bisherigem Kenntnisstand, keine politische Komponente, erst recht keine kriegerische; sie beruhte auf einer religiös-kultischen Grundlage bei weitgespannter Kommunikation und einem breiten Konsens im geistig-künstlerischen Bereich. Die zentrale Kultanlage in Chavín de Huántar wurde um 900 v. Chr. erbaut, ihr Ende wird heute von der Wissenschaft um 500 v. Chr. angesetzt.

Der Besucher kann heute durch ein weitläufiges Areal mit dem „Neuen“ und dem „Alten Tempel“, vertieften Plätzen und Freitreppen schlendern; die Frage, wer hier vor 2900 Jahren für wen und welchen Zweck so grandiose Architektur errichtete, kommt ganz von allein. Um den Tempelkomplex in das enge Tal des Rio Mosna bauen zu können, mussten die unbekannten Erbauer den Fluss umleiten und eine riesige Terrasse aufschütten.

Ein Rätselspiel der besonderen Art offerieren die „Galerien“, ein weit verzweigtes Tunnelsystem mit unterschiedlichen Räumen sowohl unter dem Alten wie dem Neuen Tempel. Die Gänge sind gemauert und mit Deckplatten nach oben abgeschlossen, ihre Höhe erlaubt normales Aufrechtgehen. Die Wände waren wahrscheinlich verputzt und farbig bemalt. Auf Wandbänken und in Mauernischen standen Skulpturen und Keramiken. In der „Galerie der Weihgaben“ unter dem Alten Tempel fanden die Archäologen über 500 Keramikgefäße, die teilweise noch Überbleibsel von Nahrungsmitteln enthielten. Manche Gänge erlauben Sichtkontakt durch Fenster, andere enden blind vor einer Wand, Treppen sind da, führen aber ins Nichts. Einzelne Schächte ermöglichen einen, wie auch immer gearteten, Kontakt nach oben ins Freie oder von oben hinab in die Unterwelt.

Wer nutzte das unterirdische Labyrinth? Die Funktion dieser aufwendigen, von Baubeginn an geplanten Unterwelt bleibt unklar. Einige Gänge scheinen tatsächlich der Ableitung des gefährlichen Wassers von den Berghängen, das auch heute noch ein großes Problem darstellt, gedient zu haben.

Fantasiebegabte Wissenschaftler können sich da vorstellen, dass das durch die Schächte und Gänge herabtosende Wasser zu einem mystischen Hörspiel verarbeitet wurde: Der Tempel habe dann wie ein Jaguar gebrüllt. Und natürlich kann man mit Hilfe eines solchen verborgenen Tunnelsystems allerlei kultischen Schnickschnack zelebrieren: Das Orakel antwortet aus der Tiefe, der Priester erscheint aus dem Nichts, Rauch entströmt der Erde, Muscheltrompeten quäken aus dem Untergrund des Tempels.

Auch für Laien ist erkennbar, dass in Chavín de Huántar noch vieles unter der Gras-Schotter-Oberfläche verborgen liegt. Es ist erst ein minimaler Teil aufgedeckt. Das will Ivan Falconin ändern. Denn der jungenhafte Chef der Ruine und des Museums ist sich sicher: „Wir können hier die gesamte Kulturgeschichte der Anden nachweisen.“ Bei Grabungen im Ruinengelände stießen Falconin und seine Helfer in vier Meter Tiefe auf einen uralten Siedlungsplatz mit Steinwerkzeugen von Menschen, die hier vor etwa 8000 Jahren gesiedelt hatten. Erstaunlicherweise hätten sie schon in Hütten gelebt, sagt Falconin. Sonst kenne man aus dieser Zeit hauptsächlich Höhlenplätze. Beim Bau der neuen Umgehungsstraße wurde eine prähistorische Feuerstelle gefunden, die über einen Luftkanal in Betrieb gehalten wurde, Alter: 4500 Jahre. Und es gab einen Vorgängerbau, der 400 Jahre vor dem Alten Tempel, also um 1200 v. Chr., entstand.

Mit modernen Untersuchungsmethoden wie Geoelektrik und Georadar will Falconin den archäologischen Geheimnissen im Gelände nachspüren. Das Wissen um eine der spannendsten Perioden der peruanischen Vorgeschichte könnte sich dabei sprunghaft erweitern. Denn für den jungen Archäologen ist klar: „Chavín de Huántar war sicher ein wichtiges, wenn nicht sogar das wichtigste Ritualzentrum. Und die Funde – ‚ausländische’ Keramiken, Spondylus-Muschel, Obsidian, Jade – zeigen, dass die Menschen von sehr weit her gekommen sein müssen, um das Orakel zu befragen. Der Ort hatte definitiv überregionale Bedeutung.“

Soeben ist ein Buch des Autors über die peruanische Vorgeschichte erschienen.

Michael Zick: Die rätselhaften Vorfahren der Inka. Theiss-Verlag, Stuttgart 2011. 160 Seiten, 130 Abbildungen. 34,90 Euro.

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