zum Hauptinhalt
Ein historisches Gebäude ist hinter Bäumen an einer Straße zu sehen.

© Wikipedia/Fridolin Freudenfett/CCBY-SA 3.0

41. Fellowjahrgang im Wissenschaftskolleg: "Weniger männlich, weniger deutsch, jünger und diverser"

Vor 40 Jahren wurde das Wissenschaftskolleg zu Berlin gegründet. Nicht nur im Geschlechterverhältnis hat sich seitdem viel verändert.

"Fast alle sind angekommen - und selbstverständlich sind alle vollständig geimpft." Dass die Rektorin einer seit 40 Jahren etablierten Forschungsinstitution in Berlin den Kreis ihrer Kolleginnen und Kollegen für die kommenden Monate so vorstellt, kündet von Krisenzeiten.

Der erste Dank von Barbara Stollberg-Rilinger, die das Wissenschaftskolleg zu Berlin seit 2018 leitet, geht denn auch an das Auswärtige Amt, das für die 47 neuen Fellows "alle Hindernisse ausgeräumt" habe. Gemeint sind zweifellos nicht nur Impfangebote in schlechter versorgten Herkunftsländern, sondern auch die Aus- und Einreise aus Krisenländern und Diktaturen.

Das Wissenschaftskolleg sei nicht nur "weniger männlich, weniger deutsch, jünger und diverser geworden", sagt Stollberg-Rilinger am Montagabend beim Berliner Empfang mit Fellows und geladenen Gästen aus Berlins scientific community.

Sie erzählen Geschichten des Exils

Auch die Lebensgeschichten der Frauen und Männer, die für zehn Monate unter den Dächern der "Wiko"-Villa und ihrer Nebenhäuser in Grunewald leben, sind wohl bewegter denn je. "Sie waren gezwungen, ihr Land zu verlassen, erzählen Geschichten des Exils aus Syrien, Belarus und Libanon." Zu dieser Gruppe gehören der syrische Dramaturg und Theaterautor Mohammad Al Attar und der aus Guatemala stammende Schriftsteller Eduardo Halfon.

Die Historikerin Stollberg-Rilinger, die als Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Münster forschte und lehrte und neben vielen anderen Preisen 2005 den hochdotierten Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft erhielt, zieht damit eine Art erste Bilanz ihrer Amtszeit. Ein jüngeres und in vielerlei Hinsicht diverseres Wiko, auch als Zufluchtsort für verfolgte Forschende und Künstler:innen, hatte sie sich 2018 vorgenommen.

Ein Porträt der Wiko-Rektorin Barbara Stollberg-Rilinger.
Die Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger leitet das Wissenschaftskolleg Berlin seit 2018.

© Maurice Weiss/Wissenschaftskolleg

[Lesen Sie auch einen Gastbeitrag von Barbara Stollberg-Rilinger für den Tagesspiegel über "Wissenschaft in Zeiten globaler Krisen"]

Dafür, dass Diversity in diesem Jahrgang auch Forschungsthema ist, steht etwa Sabina Leonelli von der Universität Exeter. Sie erkundet, wie sich Ungleichheit und Diversität in unterschiedlichen Forschungsumgebungen auf die Erkenntnisbildung auswirken.

Von magischen Handschriften bis zum Überleben in der Großen Hungersnot

Das breite Spektrum von Epochen und Weltregionen vertritt beispielsweise Sofía Torallas Tovar (University of Chicago), die auf Griechisch, Koptisch und Demotisch verfasste magische Papyrushandschriften des alten Ägypten erforscht. Xun Zhou (University of Essex) untersucht die alltägliche Gesundheits- und Ernährungspraktiken während der Großen Chinesischen Hungersnot.

Erforscht werden darüber hinaus auch die Bedeutung physischer und sozialer Räume für menschliche Interaktion, etwa von dem Politologen Bernardo Zacka (MIT) für Wohlfahrtseinrichtungen und ihre Architektur, sowie der Zusammenhang von Bild- und Raumwahrnehmung in Zeiten virtueller Realitäten - ein Projekt des Psychologen Heiko Hecht (Universität Mainz).

Ein neues Programm bringt Nachwuchswissenschaftler:innen vom afrikanischen Kontinent an Institutes for Advanced Study ihrer Wahl. Für Berlin hat sich unter anderem die Juristin Nkatha Kabira von der Universität Nairobi entschieden. Sie forscht dazu, ob die verbreiteten Regierungskommissionen etwa zu Frauenrechten, ethnischer Gewalt und Landbesitz tatsächlich zur "Zukunft des Rechts in Afrika" beitragen oder die Lösung gesellschaftlicher Probleme bloß vertagen.

1981 kam die ersten 20 Fellows, 18 von ihnen waren Männer

Bei aller erreichter Diversität: Die Parität der Geschlechter, muss Stollberg-Rilinger zugeben, sei in diesem Jahrgang mit 27 männlichen und 20 weiblichen Fellows nicht ganz erreicht worden. Doch was für ein Kontrast zum ersten Wiko-Jahrgang von 1981 mit 18 Männern und zwei Frauen.

Das 40. Jubiläum des Wissenschaftskollegs in diesem Jahr wurde von der Rektorin betont unterspielt. Eine große Feier sei schon wegen Corona nicht opportun - und werde zum 50. im Jahr 2031 umso größer nachgeholt. Einen kleinen Festvortrag gab es aber doch, von der Soziologin und Wissenschaftsmanagerin Helga Nowotny, die 1981 als eine von zwei Frauen in die Villa an der Wallotstraße einzog.

Nowotny erinnerte sich an das damalige West-Berlin als eine "Insel der freien Welt inmitten der DDR", die sie allerdings an die Osterinsel erinnerte. "Wie die Statuen dort blickten alle nach innen." Berlins SPD-Wissenschaftssenator Peter Glotz wollte das mit der Wiko-Gründung ändern, die Zeichen auf Öffnung und Internationalisierung stellen.

"Haben die gar keine Verpflichtungen?"

Doch den Berlinern, insbesondere denen an den Universitäten, sei die Einrichtung lange unheimlich gewesen. Ein Kollegium auf Zeit jährlich mit großzügigen Zuschüssen vom Bund und vom Land fördern? "Gebt das Geld lieber uns!" Anfangs 20 und bald mehr Fellows mit selbstgewählten Themen einfach nur Zeit für ihr Thema lassen, mit der einzigen Auflage, täglich zum gemeinsamen Mittagessen zu erscheinen? "Haben die gar keine Verpflichtungen?"

Nowotny ihrerseits fühlte sich von der hierarchisch geprägten Männerriege, mit der sich Gründungsdirektor Peter Wapnewski umgab, provoziert. In ihrem Vortrag im öffentlichen Dienstags-Colloquium fragte sie "Wie männlich ist die Wissenschaft?". Die Antwort des "Wiko-Establishments" sei Schweigen gewesen.

Das Wissenschaftskolleg hat sich seitdem gewaltig verändert. Doch eines soll bleiben: Die Freiheit, ungestört von der zunehmenden Effizienz-Messung der Wissenschaft zu arbeiten. Darin ist sich Helga Nowotny mit Barbara Stollberg-Rilinger einig. Doch eine Anforderung an die Fellows des 41. Jahrgangs - und beileibe keine kleine - formuliert Novotny dann doch: Sie sollten sich immer fragen, was ihr Beitrag sei, "um die Probleme der Menschheit zu überwinden".

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false