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Vielfalt im Regal. Mehr als 40 Millionen Deutsche tragen eine Brille. Zum einen, weil Kurzsichtigkeit zunimmt und die Menschen älter werden. Zum anderen sind Brillen zu einem Modeaccessoire geworden. Deswegen geht der Trend dahin, gleich mehrere Modelle zu besitzen. Foto: Getty Images/iStockphoto

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Vom Hassobjekt zum Accessoire: Brille ist jetzt chic - ganz ohne Sehprobleme

Früher war eine Brille in etwa so beliebt wie eine Zahnspange. Heute tragen sogar jene eine, die gar keine Sehhilfe brauchen. Was ist passiert?

Sie sollen sich für die Arbeit schminken, hohe Stöckelschuhe tragen – und bloß keine Brille. Sie passe nicht zum traditionellen Kimono, den Kellnerinnen in vielen Restaurants tragen müssen. Oder es heißt: An der Rezeption würden sie damit unsympathisch aussehen. Was Unternehmen ihren weiblichen Angestellten in Japan diktieren, erregt dort seit Monaten immer wieder die Gemüter.

Tausende Frauen und Männer diskutieren in den sozialen Netzwerken darüber. Aktivistinnen haben unter Führung der Schauspielerin Yumi Ishikawa eine Petition ins Leben gerufen: Die Politik solle in einem Gesetz zur Belästigung am Arbeitsplatz auch eine Klausel gegen frauenfeindliche Vorschriften zu Kleidung und Aussehen einbauen. Die Regierung erkennt das Problem zwar an. Mehr aber nicht.

Ein Brillenverbot? In Deutschland wäre das gerade kaum denkbar. Mehr als 40 Millionen Deutsche tragen eine. In der vergangenen Dekade haben die Hersteller Jahr für Jahr mehr Geld verdient. 2019 waren es fast fünf Milliarden Euro. Das berichtete vor Kurzem der Industrieverband Spectaris. „Für die Zukunft sehen wir ein gutes, fast enormes Potenzial“, prahlte Verbandschef Josef May.

Ein Grund ist die Alterung der Gesellschaft. Mehr schwache Augen bedeuten mehr Sehhilfen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat die Zunahme von Kurzsichtigkeit allerdings auch zu einem weltweiten Gesundheitsproblem unter Jüngeren erklärt. In Europa soll jeder zweite Jugendliche kurzsichtig sein – wegen seines Lebensstils.

Sie würden sich vermehrt in geschlossenen Räumen aufhalten, seltener in die Weite blicken. Statt Tageslicht sind sie künstlichem Licht ausgesetzt. Der ständige Blick auf Handy- und andere Bildschirme aus kurzer Distanz trage ebenfalls seinen Teil zur Sehschwäche bei. Dass immer mehr Menschen hierzulande nicht nur eine, sondern sogar zwei Brillen besitzen, hat aber noch eine ganz andere Ursache: Die Brille ist schick geworden.

Woran liegt das? War sie nicht auch hier mal ein Makel? So wie es in Japan noch heute den Anschein hat? Ein Anlass für Hänseleien?

Brille wird zum Mittel der Selbstdarstellung

Wer durch Berlin-Mitte spaziert, sieht inzwischen etliche Brillengeschäfte, die so stylisch eingerichtet sind wie die Kunstgalerien und Kleidungsläden drumherum. Hell beleuchtet sind sie, schlicht eingerichtet. Ein Beispiel ist Ace & Tate. Viele Modelle kosten hier nur 98 Euro, egal welche Sehstärke die Kundin oder der Kunde braucht. Zum Vergleich: 300 bis 400 Euro lassen sich Verbraucher einfache Brillen im Schnitt kosten, bei Gleitsichtgläsern sind es 800 bis 1300 Euro. Die Tendenz sei in beiden Segmenten steigend, sagt Josef May.

Das ist dann doch eher ein Gag: In Caracas trägt eine Frau eine riesige Brille.
Das ist dann doch eher ein Gag: In Caracas trägt eine Frau eine riesige Brille.

© Ariana Cubillos/AP/dpa

Das niederländische Unternehmen Ace & Tate erklärt: Die Modelle seien deswegen so günstig, weil es alles selbst mache – vom Design über die Produktion der Eigenmarken bis zum Vertrieb. Solch niedrige Preise verführen aber auch dazu, mehr als eine Muss-Brille zu kaufen. „Wir hatten die Idee, dass Brillen nicht nur ein medizinisches Gerät, sondern auch ein Tool zur Selbstdarstellung sind“, heißt es von Ace & Tate. Die Menschen sollten sich am besten eine eigene kleine Kollektion zusammenstellen, die „die verschiedenen Seiten ihrer Persönlichkeit widerspiegelt“. Mal dezent, mal auffällig bunt oder übertrieben groß.

50 Meter weiter verkauft in der Alten Schönhauser Straße das Schweizer Start-up Viu seine Brillen. Sie werden in einem italienischen Familienbetrieb in den Dolomiten und auf der japanischen Insel Honshu handgefertigt, heißt es. Mehr als 100 000 Stück reichen die Angestellten im Jahr über die Ladentheke. „Damit sind wir noch sehr klein. In den letzten 30 Jahren haben sich vor allem große Ketten den Markt aufgeteilt“, erzählt Gründer Kilian Wagner am Telefon. Mit denen hätten sie aber nicht viel gemeinsam. „Wir verstehen die Brille als Statement, als Teil eines Outfits, eines Looks.“

Wann glaubte Wagner, dass die Brille das Zeug dazu haben soll? Das sei irgendwann in den zurückliegenden zehn Jahren gewesen. Da tauchte auch der Hipster auf. Sein typischer Kleidungsstil: eng geschnittene Hose, Hemd, Bart und eine Horn- oder Nerd-Brille. Heute tragen sie Models auf den großen Laufstegen, Hollywood-Stars bei der Oscar-Verleihung.

Das reicht Wagner aber nicht. Brillen sollen die neuen Sneakers werden. Etwas, wonach man am Samstagnachmittag mit Vergnügen in Geschäften stöbert. „Die Deutschen gönnen sich fünf bis sieben Paar Schuhe im Jahr“, sagt Wagner, „aber nur alle vier, fünf Jahre eine Brille.“ Das soll sich ändern.

Noch wird fast jede zweite Brille in Deutschland bei Fielmann gekauft, dem omnipräsenten Marktführer. Günther Fielmann eröffnete sein erstes Fachgeschäft 1972 in Cuxhaven. Damals sahen Augenoptiker aus wie Apotheken. Die Brillen waren nicht ausgestellt wie heute, sondern lagen in Schubladen. Außerdem waren sie viel teurer als heute. Es gab nur sechs Kassenbrillen, zwei für Kinder. Wer sich keine Feinbrille leisten konnte, trug den Nachweis eines geringen Einkommens auf der Nase. Diese Diskriminierung wollte Günther Fielmann angeblich beenden.

Hersteller haben trotz des Booms Sorgen

„Er hat die hässliche Kassenbrille schön gemacht und damit das Stigma beseitigt“, sagt Fielmann-Sprecher Tobias Plöger. „Seinen Optikern zog er die weißen Kittel aus.“ Weil Günther Fielmann seine Fassungen direkt beim Hersteller kaufte und somit günstiger anbot, bebte die Branche. Wollte er eine neue Niederlassung eröffnen, kam es vor, das ihm die Türschlösser zugeklebt oder Müllcontainer vor dem Laden angezündet wurden.

1981 schloss der Unternehmer trotzdem einen Deal mit der Krankenkasse AOK: Aus den acht Kassengestellen machte Fielmann 90 modischere Modelle in 640 Material- und Farbvarianten. „Es war das Ende der Sozialprothese“, drückt es Plöger aus. Die Brille wurde aus der Gesundheitsecke geholt. Sie wurden ansehnlich.

Bei einer Straßenumfrage meinte eine Leipziger Studentin vor einigen Jahren: Sie sieht nicht schlecht. Mit einer Brille sehe sie aber intelligenter aus. Damit ist sie nicht allein. Inzwischen würden zu Fielmann immer mehr Kundinnen und Kunden kommen, die eine Brille haben möchten, obwohl sie gar keine bräuchten.

Obwohl die Brille so beliebt ist, sind Hersteller besorgt. Im vergangenen Jahr übernahm Marc Fielmann die Geschäfte seines Vaters. Er muss das Geschäft digital machen. Steht einem die Brille, die man gut findet? Wie soll das Gestell an die Kopfform angepasst werden? Wie ist garantiert, dass der Abstand zwischen Gläsern und Augen korrekt ist? Lange schien es unmöglich, den stationären Fachhandel online zu ersetzen. Künftig wird das aber durchaus möglich sein. Durch die Beteiligung am französischen Start-up Fittingbox habe Fielmann eine Technologie ergattert, um Brillen per 3D-Simulation anzuprobieren. Ziel sei es, bis 2025 eine noch bessere Gesichtsanpassung zu ermöglichen. Und einen digitalen Sehtest.

Viu spricht ebenfalls von der virtuellen Anprobe und dem Sehtest mit dem Smartphone, wenn es um die Zukunftsfragen der Branche geht. Vor zwei Jahren brachte das Start-up allerdings schon eine Brillenkollektion aus dem 3D-Drucker heraus. In diesem Jahr wird es die zweite Kollektion aus leichtem Polyamid-Staub geben. „Der 3D-Druck ist wie gemacht für Brillen“, meint Kilian Wagner – und wirbt damit, dass der Prozess nachhaltig sei, kein Restmaterial hinterlasse, nur einen geringen ökologischen Fußabdruck. Bei Viu und Ace & Tate steht überall, wie nachhaltig sie seien. Müssen sie auch. Bei der jungen Generation, die freitags für die Rettung des Klimas auf die Straße geht, reicht es nicht, nur gut auszusehen. Allerdings steht bei Ace & Tate nicht direkt auf der Seite, dass sie ihre Produkte teilweise in China produzieren.

Es gibt noch etwas, das die Brillenbranche im Moment nervös macht: Noch wird lediglich jede zwölfte Brille im Internet gekauft. Deswegen will Mr. Spex, der führende Online-Optiker Europas, Hunderte Läden in verschiedenen Städten eröffnen. Die Konkurrenz wächst also in der digitalen und realen Welt. Was es im Sortiment von Mr. Spex natürlich auch gibt? Brillen ohne Sehstärke.

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