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Gerd Gigerenzer

© Georg Moritz

Interview mit Gerd Gigerenzer: "Viele Menschen vertrauen blind Algorithmen"

Gerd Gigerenzer ist Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und des Harding-Zentrums für Risikokompetenz. Im Interview spricht er über das Risiko bei jeder medizinischen Behandlung und warum es so wichtig ist, dass Ärzte auf ihre Intuition hören.

Von Heike Gläser

Herr Gigerenzer, "personalisierte Medizin" basiert auf biologischen Merkmalen wie DNA-Markern. Ist dann auch die Therapie individualisiert?
Personalisierte Medizin ist ja nicht, wie man sich das vorstellt, Medizin für die individuelle Person, sondern immer nur für Klassen von Menschen. Diese Klassen kann man immer mehr differenzieren, ganz ähnlich, wie man das auch schon immer gemacht hat. Zum Beispiel haben Frauen eine erhöhtes Brustkrebs-Risiko, wenn sie kinderlos sind, älter sind und ein sogenanntes Brustkrebs-Risiko-Gen haben.

Dann geht es also nicht um mein persönliches Medikament, sondern um eines, das für eine bestimmte Gruppe entwickelt wurde?
Ja, die Industrie wäre sicher nicht glücklich, wenn sie für jeden Einzelnen ein Medikament herstellen müsste.

Wird personalisierte Medizin das Gesundheitswesen zukünftig effizienter machen?
Effizienter würde bedeuten, dass die Pille, wie wir sie heute haben, nicht mehr existieren wird. Stattdessen müsste man dann auch maßgeschneiderte Pillen produzieren. Und das würde die Kosten entsprechend erhöhen.

Es gibt junge Menschen, die sich via Internet ihre DNA auf zukünftige Krankheiten untersuchen lassen. Sieht so der Patient der Zukunft aus?
Jeder, der sich selbst diagnostiziert, muss verstehen: Erstens, dass der Test nicht absolut sicher ist. Und zweitens, dass es falsch-positive Ergebnisse gibt. Es gibt zwei Arten von Fehlern: Entweder der Test übersieht etwas oder er meldet etwas, was nicht da ist – also ein falscher Alarm.

Gibt es denn auch sichere Tests?
Die Idee, dass Sie am Ende absolute Sicherheiten haben, ist eine Illusion. Die Wahrscheinlichkeiten der Krankheiten, die Sie bekommen können, kann man besser bestimmen. Aber im 21. Jahrhundert sollte man endlich verstehen: Nichts ist sicher, außer der Tod und die Steuern. Und der Rest ist oft Überraschung. Wir möchten auch keine Welt haben, in der alles vorhersagbar ist. Wie langweilig wäre unser Leben dann. Keine Hoffnung. Keine Freude. Keine Enttäuschung.

Was macht diese Unsicherheit mit unseren Entscheidungen, die wir treffen?
Wir müssen die Risiken akzeptieren, statt sie zu verdrängen, und lernen, mit ihnen umgehen. Und selbst mitdenken, statt einfach anderen die Entscheidung zu überlassen – so macht das Leben auch mehr Spaß. Deshalb schreibe ich Bücher wie "Risiko", um den Menschen zu helfen, Risiken zu verstehen und selbst zu entscheiden. Gerade in Deutschland neigt man dazu, stattdessen die Verantwortung einfach dem Staat zuzuschieben, oder dem Arzt.

Sie sagen aber auch, dass man Entscheidungen aus dem Bauch heraus treffen sollte…
Manchmal braucht man gute Intuition, wie jeder Arzt. Intuition bedeutet: Man spürt, was zu tun ist, aber man kann es nicht begründen. Intuition beruht auf viel Erfahrung, und jeder Experte braucht sie. Ein guter Fußballspieler reagiert intuitiv und schnell, kann aber meist nicht erklären, wie er ein Tor geschossen hat. Viele Menschen misstrauen jedoch intuitiven Entscheidungen oder haben Angst, eine solche zuzulassen, und vertrauen oft blind Algorithmen oder Big Data, als ob diese die Lösung aller Probleme wären. Das ist ein Irrtum. Wir haben beides, Kopf und Bauch. Ist eine Situation stabil, dann kommen wir weiter, wenn wir große Datenmengen analysieren, ist sie aber instabil wie etwa im Finanzbereich, dann kann Big Data nur Sicherheiten vorgaukeln. Die Wettervorhersage wurde aufgrund großer Daten immer besser, aber Vorhersagen von Aktien und Wechselkursen nicht.

Und in der Medizin?
Es gibt Datenbanken, die man anlegt, um demografische oder statistische Untersuchungen zu machen. Das ist sinnvoll. Bei der Vorhersage von Krankheiten gilt jedoch ganz allgemein: Je unsicherer, je komplexer die Situation ist, desto einfacher müssen die Vorhersagemethoden sein, weil man sonst irrelevante Informationen heranzieht. Das nennt man in der Statistik "overfitting".

Ihrer Ansicht nach werden Statistiken im Hinblick auf ihre Aussagekraft häufig falsch interpretiert. Verschärft sich diese Problematik künftig?
Personalisierte Medizin braucht Bildung. Und das Bildungsproblem, das wir ohnehin schon haben, wird dadurch noch viel größer. Die meisten Patienten sind ja kaum informiert. Sie verhalten sich oft ganz ähnlich, wie sie sich – zumindest vor der Finanzkrise – dem Bankberater gegenüber verhalten haben. Viele Menschen wissen nicht, wo sie sich verlässlich informieren könnten, und suchen sich eine Person, der sie vertrauen können – und dann kaufen sie, was ­ihnen empfohlen wird. Inzwischen hat man eine Lektion daraus gelernt: dass man einfach selbst mitdenken muss. Das Gleiche gilt für so wichtige Dinge wie Gesundheit. Mitdenken heißt auch, dass man den Mut hat, selbst Verantwortung zu übernehmen – und nicht alles auf den Arzt schiebt.

Welche Rolle kommt dem Arzt dabei zu?
Das Kernproblem ist – nach unseren Studien – dass etwa 70 bis 80 Prozent der Ärzte die Gesundheitsstatistiken selbst nicht verstehen.

Das klingt deprimierend …
Ja, aber das ist ein Problem, das eine Lösung hat. Das Deprimierende ist etwas anderes: Dass es so lange dauert, bis man dieses Bildungsproblem endlich erkennt und angeht. Die medizinischen Fakultäten sollten beginnen, jedem angehenden Arzt beizubringen, wie man Gesundheitsstatistiken versteht, sodass die Ärzte nicht mehr so leicht manipuliert werden können. Genauso sollte man in den Schulen Kinder den Umgang mit Risiken lehren. Um mit dem enormen technologischen Fortschritt mitzuhalten, brauchen wir mehr Bildung, mehr Risikokompetenz. Was hilft Ihnen das beste Auto, wenn Sie es nicht fahren können?

Wie bekommt man einen mündigen Patienten und Ärzte, die in der Lage sind, dem Patienten zu erklären, um was es geht?
Eine Methode sind sogenannte Faktenboxen, die wir entwickelt haben. Eine Faktenbox erklärt in einfacher, verständlicher Sprache, was der Nutzen und was der Schaden eines Medikaments, einer Impfung oder einer anderen Behandlung ist. Am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung verwenden wir viel Arbeit darauf, Komplexes einfach zu erklären. Diese Faktenboxen sollten in jeder Arztpraxis ausliegen – und nicht nur die "Freundin" und die "Motorwelt".

Wie machen Sie diese Faktenboxen zugänglich?
Auf der Webseite der AOK, der Bertelsmann Stiftung und auf unserer Webseite. Die AOK war die erste Krankenkasse weltweit, die den Mut hatte, gemeinsam mit uns ein Faktenboxen-Programm zu machen. Das ist ein ganz wichtiger Schritt hin zum mündigen Patienten, zu einer Revolution des Gesundheitswesens, sodass Patienten und Ärzte die Ergebnisse der medizinischen Forschung schnell einsehen können. Es fällt mir schwer zu begreifen, warum unsere Politik hier noch kaum mitmacht. Denn mit Bildung und Transparenz könnten wir ein besseres Gesundheitssystem mit weniger Kosten erreichen.

Gerd Gigerenzer ist Professor für Psychologie, Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und des Harding-Zentrums für Risikokompetenz.

Dieses Interview erschien zuerst im Wirtschaftsmagazin "Köpfe" aus dem Tagesspiegel-Verlag, das Sie hier bekommen können: Tagesspiegel Köpfe bestellen

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