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Frank Werneke führt seit vier Jahren die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Am kommenden Montag wird er vermutlich wiedergewählt.

© dpa/Henning Kaiser

Verdi-Chef kritisiert Ampel: „SPD und Grüne lassen sich von der FDP am Nasenring durch die Manege ziehen“

Die Arbeitskämpfe werden härter, weil die Beschäftigten mutiger geworden sind, freut sich Frank Werneke. Die Bundesregierung tue hingegen zu wenig für Arbeitnehmer, sagt der Verdi-Chef.

Herr Werneke, gehen Sie in die Verdi-Geschichte ein als der Vorsitzende, der den Mitgliederschwund stoppte?
Jedenfalls werden wir in diesem Jahr einen deutlichen Mitgliederzuwachs haben. Und es ist das erste Mal seit der Verdi-Gründung 2001, das stimmt.

Was sind die Gründe?
Die hohe Zahl der Eintritte erklärt sich vor allem mit den Tarifrunden bei der Post, im öffentlichen Dienst und aktuell im Handel. Der Tarifkonflikt im Groß- und Einzelhandel ist noch nicht beendet, aber wir haben bereits 10.000 neue Mitglieder aus diesen Bereichen bekommen.

Sie sprechen vom „neuen Selbstbewusstsein der Beschäftigten“. Was bedeutet das?
Die Bereitschaft, mitzumachen, auf die Straße zu gehen und zu streiken, ist größer geworden. Das hängt auch mit der hohen Inflationsrate zusammen und dem Kaufkraftverlust. Und angesichts des Fach- und Arbeitskräftemangels sind viele Beschäftigte mutiger als früher. So sind die Menschen etwa auch in Dienstleistungsbranchen wie der Logistik oder an den Flughäfen zunehmend bereit, sich zu engagieren, weil das Damoklesschwert des drohenden Arbeitsplatzverlustes nicht mehr über ihnen schwebt. Oder zumindest weniger stark als in der Vergangenheit.

Die Tarifauseinandersetzung im Einzelhandel dauert bereits Monate und zieht sich voraussichtlich bis ins Weihnachtsgeschäft.

© dpa/Frank Hormann

Die Tarifverhandlungen für die mehr als drei Millionen Beschäftigten im Einzelhandel kommen seit Monaten nicht voran, weil Verdi zu wenige Mitglieder hat, die mit Streiks den Druck erhöhen.
Mehr Mitglieder sind immer besser. Der Einzelhandel ist heterogen, und es gibt eine hohe Fluktuation, das erschwert Tarifverhandlungen. Aber unsere Streiks treffen die Unternehmen dennoch empfindlich, weil unter anderem häufig die Zentrallager betroffen sind. Die Arbeitgeber bieten nur gut acht Prozent bei einer Laufzeit von 24 Monaten. Auf diesem Niveau werden wir nicht abschließen.

Vor Weihnachten gibt es dann womöglich Streiks im Handel und bei den Bundesländern, wo im Herbst die Verhandlungen beginnen.
Die Streikbeteiligung ist im Handel so gut wie selten zuvor, deshalb werden wir einen guten Tarifabschluss bekommen. Und im öffentlichen Dienst der Länder werden wir auch mobilisierungsfähig sein.

Der letzte Tarifvertrag für die Länder fiel Ende 2021, im zweiten Coronawinter, ziemlich mickrig aus für die Beschäftigten.
Eine gewisse Unzufriedenheit über den damaligen Abschluss gab es vor allem in den Krankenhäusern. Es war vor dem Hintergrund der Pandemie insgesamt kein tolles Ergebnis. Deshalb haben wir etwas nachzuholen. Aber es gilt auch: Jedes Tarifergebnis ist immer auch Spiegel der Bereitschaft der Beschäftigten, sich zu engagieren.

Für Bund und Kommunen hat Verdi im vergangenen Frühjahr mindestens 500 Euro mehr im Monat gefordert – ein Muster für die Bundesländer?
Die Forderung für die Länder beschließen wir am 11. Oktober. Aber es gibt überhaupt keinen Grund, für die Länder weniger zu fordern als für die Kommunen.

Sie haben die Krankenhäuser erwähnt, in denen Verdi in den vergangenen Jahren viele Mitglieder gewonnen hat. Gilt das inzwischen auch für die Altenheime und die Altenpflege überhaupt?
In den Bereichen Gesundheit, Soziales und Erziehung wachsen wir am stärksten und haben uns auch tarifpolitisch gut entwickelt. Aber es ist einfacher, eine Uniklinik zu organisieren als ein privates Altenheim. Zuletzt haben wir mit der neuen Pflegemindestlohnempfehlung viel erreicht. Angelernte Hilfskräfte bekommen künftig 16,10 Euro und Fachkräfte mindestens 20,50 Euro die Stunde. Dass die Politik überhaupt tätig wird, ist auch das Ergebnis gewerkschaftlicher Arbeit.

Beim gesetzlichen Mindestlohn hält sich die Politik zurück. Nach der Entscheidung der Mindestlohnkommission steigt die Lohnuntergrenze 2024 von zwölf Euro auf 12,41 Euro und ein Jahr später auf 12,82 Euro.
Es ist empörend, wie sich die Arbeitgeber in der Mindestlohnkommission verhalten haben. Da fehlt jedes Gespür für die Situation der Menschen, die vom Mindestlohn leben. Die Bundesregierung ist gefordert, die EU-Richtlinie über die Höhe des Mindestlohns umzusetzen, wonach hierzulande 14 Euro gelten müssten. Wenn die Bundesregierung die dafür vorgesehenen Fristen ausreizt und erst mal nichts tut, trifft das vor allem die vielen Mindestlohnbezieher, zum Beispiel in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt. Das ist gesellschaftlicher Sprengstoff.

Die erbärmliche Erhöhung des Mindestlohns ist ganz sicher kein Beitrag, um den Umfrageaufschwung der AfD zu verhindern. 

Frank Werneke

Die Ampel fasst das Thema nicht an.
Bei der SPD und den Grünen nehme ich in dieser Frage eine gewisse Farblosigkeit wahr. Nach den Landtagswahlen im nächsten Jahr könnte das anders werden.

Sie spielen an auf das Umfragehoch der AfD. Was tun die Gewerkschaften gegen den Aufschwung der Rechten?
Verdi ist von den zivilgesellschaftlichen Organisationen noch mit am besten in den ostdeutschen Ländern verankert und hat oft Stellung bezogen gegen Pegida und AfD. In Thüringen und Sachsen haben wir eine gute Mitgliederentwicklung. Die erbärmliche Erhöhung des Mindestlohns ist ganz sicher kein Beitrag, um den Umfrageaufschwung der AfD zu verhindern. Aber dafür gibt es vielfältige Gründe.

Auch die Performance der Ampel?
Die trägt vermutlich dazu bei, dass sich Menschen abwenden. Wobei ich unterscheiden würde zwischen Performance und tatsächlichem Regierungshandeln. Wenn die Ampelparteien bei den nächsten Wahlen nicht untergehen wollen, sollten sie in der Abstimmung und der Außendarstellung deutlich besser werden.

Der gesetzliche Mindestlohn steigt im kommenden Jahr von 12 Euro auf 12,41 Euro.

© dpa / Magdalena Tröndle (dpa)

Wie finden Sie den „Deutschlandpakt“ von Olaf Scholz?
Das ist erst mal nur eine Überschrift, die alles andere als selbsterklärend funktioniert. Die Koalition hat sich auf eine Liste von Aufgaben verständigt, die abzuarbeiten ist. Dazu braucht es keinen Pakt. Für große Transformationsaufgaben, etwa die Klimawende und die Bildungspolitik, wäre aber eine bessere Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern hilfreich. Wenn das der Pakt bringen soll – prima.

Sie sind Mitglied der von Scholz gegründeten konzertierten Aktion und der Allianz für Transformation. Passiert da noch was?
Die konzertierte Aktion steht auf Standby, die Allianz läuft weiter, vor allem mit Blick auf die Energiewende. Was viele vermissen, ist eine nachvollziehbare Erzählung, ein schlüssiges Bild dessen, was dort gemacht und angestrebt wird. Anders gesagt: Die Manufaktur funktioniert ganz gut, aber der Vertrieb ist schlecht.

Das Gerede vom „kranken Mann Europas“ ist eine Kampagne, mit der versucht wird, bestimmte Vorstellungen von Wirtschaftsliberalen und von Arbeitgeberverbänden durchzusetzen.

Frank Werneke

Die Erwartungen an den Staat sind nach den Coronajahren und der Energiekrise hoch, doch die Kassen sind leer.
Das Festhalten an der Schuldenbremse macht keinen Sinn. Fast alle Industrieländer agieren anders, insbesondere die USA, weil der Investitionsbedarf in der Transformation zur Klimaneutralität riesig ist. Doch SPD und Grüne lassen sich von der FDP am Nasenring durch die Manege ziehen.

Aber wenn wir wieder eine Standortdebatte bekommen wie in den 90er Jahren, die unter anderem zum Ausbau des Niedriglohnsektors führte, kann das nicht im Sinne der Gewerkschaften sein.
Das Gerede vom „kranken Mann Europas“ ist eine Kampagne, mit der versucht wird, bestimmte Vorstellungen von Wirtschaftsliberalen und von Arbeitgeberverbänden durchzusetzen. Neben der Zinspolitik der EZB belasten zwei Faktoren die deutsche Wirtschaft mehr als andere europäische Länder: Wir waren sehr abhängig von billigen Energieimporten aus Russland und die starke Orientierung auf Exportmärkte, vor allem China, macht uns schaffen.

Welche Konsequenzen hat das?
Wenn nicht mehr alle alten Geschäftsmodelle funktionieren, müssen wir uns stärker auf Dienstleistungsmärkte konzentrieren. Es muss dafür gesorgt werden, Nachfrage zu schaffen und die Entwicklung von Dienstleistungen voranzutreiben. Dazu bedarf es eines aktiv handelnden, starken Staates.

Sie werden am kommenden Montag auf dem Verdi-Bundeskongress wiedergewählt. Wie sieht Ihr Programm für die kommenden vier Jahre aus?
Wir sind gut unterwegs, wollen das verstetigen und organisieren auch zunehmend erfolgreich neue Dienstleistungsbereiche. Etwa beim kanadischen Telus-Konzern, einem Dienstleister für Social-Media-Anbieter, haben wir rund 500 der 1500 Mitarbeitenden hierzulande organisiert. Obgleich es in Bereichen, die keine gewerkschaftliche Tradition haben, mühselig ist, Fuß zu fassen. Doch gerade dort wollen wir auch tarifpolitisch expandieren. Es gibt also viel zu tun.

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